Wolken über Ebou
KAPITEL 1
Unsichtbare Augen
Als Egwene zu ihrem Zelt zurückkam, wartete Selame bereits, eine stockdünne Frau mit dunkler tairenischer Hautfarbe und einem fast unzugänglichen Selbstbewußtsein. Chesa hatte recht: Selame trug ihre Nase tatsächlich hoch erhoben, als weiche sie vor einem üblen Geruch zurück. Aber wenn sie sich gegenüber anderen Töchtern des Speers auch anmaßend verhielt, gab sie sich bei ihrer Förderin in Wahrheit doch ganz anders. Als Egwene eintrat, versank Selame in einen so tiefen Hofknicks, daß ihre Stirn fast den Teppich streifte und sich ihre Röcke so weit wie möglich ausbreiteten. Bevor Egwene noch einen zweiten Schritt ins Zelt hinein getan hatte, sprang die Frau auf und machte ein Aufhebens um sie. Selame hatte sehr wenig Verstand.
»Oh, Mutter, Ihr seid schon wieder ohne Kopfbedeckung ausgegangen.« Als hätte sie jemals eine der mit Perlen verzierten Hauben, welche die Frau bevorzugte, oder die von Meri geliebten bestickten Samtkappen oder Chesas Federhüte getragen. »Und Ihr fröstelt. Ihr solltet niemals ohne Schal und Sonnenschirm ausgehen, Mutter.« Wie sollte ein Sonnenschirm Frösteln verhindern? Obwohl ihr der Schweiß ungeachtet dessen, wie schnell sie ihn mit ihrem Taschentuch abrieb, die Wangen hinablief, dachte Selame niemals daran zu fragen, warum sie zitterte, was vielleicht ebensogut war. »Zudem seid Ihr allein ausgegangen, bei Nacht. Das ist einfach nicht richtig, Mutter. Denkt an alle diese Soldaten, rauhe Männer, die keiner Frau Respekt erweisen, selbst den Aes Sedai nicht. Mutter, Ihr dürft einfach nicht...«
Egwene ließ die törichten Worte genauso über sich ergehen wie die Hilfe der Frau beim Auskleiden, indem sie diese einfach nicht beachtete. Wenn sie ihr zu schweigen befahl, würde sie so viele verletzte Blicke und gekränkte Seufzer ernten, daß es kaum einen Unterschied machte. Bis auf ihr geistloses Geschwätz verrichtete sie ihre Pflichten eifrig, wenn auch nicht ohne viele große Gesten und unterwürfige Hofknickse. Niemand schien so einfältig wie Selame zu sein, die ständig mit Äußerlichkeiten beschäftigt war und sich darum sorgte, was die Leute dachten. Für sie waren wichtige Leute die Aes Sedai und der Adel sowie deren höher gestellte Diener. Niemand sonst zählte für sie. Wahrscheinlich war es wirklich unmöglich. Egwene würde weder vergessen, wer Selame zuerst entdeckt hatte, noch wer Meri entdeckt hatte. Gewiß war Chesa ein Geschenk von Sheriam, aber Chesa hatte Egwene ihre Treue schon mehr als einmal bewiesen.
Egwene hätte sich gern selbst davon überzeugt, daß das Zittern, das Selame für Frösteln hielt, Zornesbeben war, aber sie war sich dessen bewußt, daß sich Angst in ihrem Innern breitgemacht hatte. Sie war zu weit gekommen und hatte noch zuviel zu tun, als daß sie Nicola und Areina hätte erlauben dürfen, ihr Knüppel zwischen die Beine zu werfen.
Als sie den Kopf durch die Halsöffnung eines frischen Hemdes steckte, nahm sie einige Worte des Geplappers der Frau wahr und sah sie an. »Sagtet Ihr Schafsmilch?«
»O ja, Mutter, Eure Haut ist so weiß, und nichts wird sie besser erhalten als ein Bad in Schafsmilch.«
Vielleicht war Selame wirklich schwachsinnig. Egwene scheuchte die protestierende Frau aus dem Zelt und bürstete ihre Haare selbst. Dann deckte sie ihr Bett auf, legte das jetzt nutzlose A'dam- Armband in die kleine, verzierte Elfenbeinschachtel, in der sie ihre wenigen Schmuckstücke aufbewahrte, und löschte zuletzt die Lampen. Alles selbst, dachte sie in der Dunkelheit sarkastisch. Selame und Meri werden einen Wutanfall kriegen.
Bevor sie sich jedoch hinlegte, trat sie zum Zelteingang und öffnete ihn einen kleinen Spalt. Draußen herrschte mondbeschienene Stille und Schweigen, die nur vom Schrei eines nächtlichen Reihers unterbrochen wurden, der plötzlich abbrach. Überall in der Dunkelheit waren Jäger unterwegs. Kurz darauf bewegte sich in den Schatten des gegenüberstehenden Zelts etwas. Es war anscheinend eine Frau.
Vielleicht machte der Schwachsinn Selame nicht unfähiger, als die mürrische Verdrießlichkeit Meri ausschloß. Die Gestalt neben dem Zelt konnte jeder der beiden sein. Oder jemand völlig anderer. Sogar Nicola oder Areina, so unwahrscheinlich es auch schien. Sie ließ den Zelteingang lächelnd wieder zufallen. Wer auch immer der Beobachter war, würde nicht sehen, wohin sie heute nacht ging.
Die Weisen Frauen hatten sie eine einfache Art gelehrt, sich in Schlaf zu
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