Verdammt wenig Leben
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Es gab einmal eine Zeit, in der unsere Leben nicht vorab niedergeschrieben waren. Damals lebte jeder Mensch aus dem Stegreif, von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde. Man reihte eine Handlung an die nächste, ohne den Aufbau oder die Bedeutung des Ganzen im Kopf zu haben. Alle, die dem Zufall ausgeliefert waren, vergeudeten ihre Zeit mit körperlich und geistig anstrengenden Routinearbeiten, nur um ihren Lebensunterhalt bestreiten zu können, und waren sich ihres Unglücks nicht einmal bewusst. Ihrer Existenz lag kein Plan zugrunde, und wenn sie starben, wurde ihr Platz sofort von anderen eingenommen, die genauso weitermachten. Spuren hinterließ so ein Leben gerade mal bei einigen wenigen, bei Verwandten oder Bekannten, deren Verbindung mit dem Verstorbenen fast immer auf Zufall beruhte. So lebten meine Urgroßeltern, deren Eltern und die Eltern ihrer Eltern: ein absurdes, anonymes Dasein, denn damals interessierten sich die Menschen kaum für ihre Mitmenschen.
Mehr als einmal habe ich mich gefragt, was sie wohl denken würden, wenn sie uns heute sehen könnten, wenn sie sich einen Eindruck von dieser Gesellschaft verschaffen könnten, in der endlich jeder einen eigenen, nicht austauschbaren Platz einnimmt. Würden sie begreifen, was so ein Leben im Dienste der anderen bedeutet? Würden sie sich darüber freuen, dass ihre Nachkommen sich für immer von der Tyrannei des Zufalls befreit haben und ihr Schicksal vollkommen im Griff haben? Manche behaupten, das würde ihnen Angst machen; sie, die nur überlebten, weil sie den Zufall für Freiheit hielten, würden diese letzte kulturelle Entwicklung nicht nachvollziehen können. Außerdem waren sie schamhaft. Sie waren es gewohnt, einen großen Teil ihrer täglichen Verrichtungen vor den anderen zu verbergen und vieles völlig allein oder nur in Gesellschaft ganz weniger Menschen zu tun. Die Kameras, die Nanoimplantate und die wöchentlichen Auswertungen hätten sie befangen gemacht; sie waren nicht bereit, ihre Erfahrungen mit anderen zu teilen. Irgendwo habe ich gelesen, dass es am Anfang Männer und Frauen gab, die nach den TV-Abstimmungen über die Figur, die sie spielten, Selbstmord begingen. Sie konnten das Urteil der Zuschauer einfach nicht akzeptieren. Sie hatten ihre eigene Vorstellung von der Zukunft und weigerten sich, sie ihrem Publikum zuliebe aufzugeben. Aber letztlich sträubten sich nur wenige gegen die Veränderung; die meisten begriffen, dass eine bewusste Entwicklung im Einklang mit den Wünsehen und Bedürfnissen der Gemeinschaft besser war als eine planlose wie bei Tieren und Pflanzen. Und so sind wir da angelangt, wo wir jetzt sind: in einer komplexen, offenen, transparenten Welt, in der jeder für alle lebt und es keinen Menschen gibt, der nicht seine Sternstunde gehabt hat, berühmt geworden ist und im Rampenlicht gestanden hat. Denn Zuschauer gibt es immer, ganz gleich, worum sich eine Sendung dreht. Manche werden nur vom Sender des eigenen Wohnblocks ausgestrahlt; andere vom Jugendklub oder Familienverein. Die einen Darsteller triumphieren in Sportkanälen oder Talentshows und schaffen es Schritt für Schritt, mit Mühe und Ausdauer, sich ein Leben mit mehreren Hundert, ja sogar Tausenden oder Millionen von Zuschauern aufzubauen. Die anderen spezialisieren sich auf Beziehungsprobleme, die Dritten führen vor, wie man sich in einer Gruppe durchsetzt, manche schlagen Kapital aus ihren Fehlern, andere zeigen, was sie alles können, aber letztendlich gibt es niemanden, der nicht auf seine Weise interessant ist.
Hinter dieser geordneten Vielfalt steckt natürlich die Arbeit der Drehbuchautoren. Ohne sie wäre nichts davon möglich … Ein Reizthema, ich weiß, denn es stimmt, dass nun mal nicht jeder die Besten haben kann, und es stimmt auch, dass das ungerecht ist. Aber als es sie noch nicht gab, war die Ungerechtigkeit wesentlich größer. Sie versuchen zumindest so ausgewogen wie möglich zu sein. Natürlich macht es einen Unterschied, ob man seine Drehbücher als Ergebnis einer interaktiven Sendung oder von einem Team menschlicher Profis bekommt. Da kann ich mitreden, schließlich habe ich beides kennengelernt, und man kann das wirklich nicht vergleichen. Die interaktiven Sendungen, in denen Zuschauer an Plots mitschreiben, sind klasse, kein Zweifel, aber es fehlt ihnen an Originalität. Mit solchen Drehbüchern ist es sehr schwer, ein Publikum von mehr als hunderttausend Menschen zu erreichen, das will ich gar nicht abstreiten, auch wenn es ein
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