Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan

Titel: Der siebte Schwan - Mer, L: Der siebte Schwan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lilach Mer
Vom Netzwerk:
das Mädchen mit der Suppenschüssel wartete. Niemand kam dann darauf zu fragen, ob man vielleicht den ganzen Nachmittag wieder auf dem scheußlichen alten Boden verbracht hatte …
    »Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich erst die Rose beenden soll oder gleich mit der Baumkrone dort drüben
anfange. So habe ich wohl eine Stunde nur überlegt und schließlich gar nichts getan«, sagte sie und lächelte entschuldigend.
    Der Doktor nickte.
    »Es ist nicht immer einfach, ein Backfisch zu sein. Der kleine Kopf so voll mit so vielen verschiedenen Dingen. Aber das findet sich mit der Zeit, meine Liebe, glauben Sie es mir. Das findet sich und ordnet sich alles, wenn man erst erwachsen ist. Wenn aus der kleinen Wilhelmina das Fräulein Ranzau geworden ist.«
    Er ließ den Zipfel des Lakens fallen, den er mit zwei Fingern angehoben hatte. Mit der anderen Hand vollführte er eine elegante Geste zur Luke hin, wie ein Tanzherr, der seine Dame zu Tisch geleiten will.
    »Wenn ich dann bitten darf …«
    Mina lachte und folgte der Bewegung. Sie setzte die Füße auf die schmalen Stufen der Bodentreppe, ohne hinzusehen; im Schlaf hätte sie sie gehen können, seit sie einmal mitten in der Nacht hinaufgeschlichen war, um zu beobachten, wie der Vollmond durch die Zweige der Buchen schien. Sie hob den Kopf, vielleicht, um dem Doktor noch eine scherzhafte Bemerkung zuzuwerfen. Er wartete mit dem Rücken zum Fenster, geduldig, immer noch lächelnd. Aber wie ein sonderbares Häkchen stand, dicht über den spiegelnden Brillengläsern, eine kleine, steile Falte auf seiner Stirn, die nicht zu dem Lächeln passte. Fremd, eigentümlich. Sie verwirrte Mina den einen Moment, den sie sie sah, bevor sie sich wieder in Glätte auflöste. Beinahe wäre Mina gestolpert.
     
    Im Speisezimmer war das Licht von draußen gebändigt durch schwere Vorhänge. Alle Kerzen brannten am Deckenleuchter
über dem Esstisch; Silberlöffel glänzten matt auf milchweißen Servietten. Frieda, das Stubenmädchen, das gar nicht Frieda hieß, aber nun einmal die Nachfolgerin einer ganzen Reihe von Friedas war, stand wie immer hinter den Eltern, dicht bei dem Glasschrank mit den Porzellanfiguren. Über ihren breiten, schwarz verhüllten Schultern spannten sich weiße Schürzenspitzen wie klägliche Engelsflügelchen. Wenn sie achtlos das Gewicht verlagerte, klirrten die Schäferinnen und Barocktänzer, die Blumenkörbe und verspielten Kätzchen hinter ihr im Schrank, die Mutter seufzte leise, und der Vater zog eine Augenbraue hoch. Dann stieg Frieda das Blut leuchtend rot in die Wangen, bis hinauf zu den feinen blonden Härchen, die unter ihrem Häubchen her vorspitzten. Mina fühlte ein unbestimmtes Mitleid mit ihr, wie mit all den Stubenmädchen. Sie waren da, und auch wieder nicht; man bat sie um ein neues Glas Wasser, eine zweite Scheibe Kuchen, sie traten aus dem Nichts und verschwanden wieder darin, ohne mehr zu hinterlassen als einen schwachen Hauch von Seife und Kleiderstärke. Und manchmal, spätabends, hörte man sie in der Mädchenkammer weinen.
    An diesem Tag klirrten die Schäferinnen kaum. Vielleicht, weil der Doktor mit am Tisch saß, gar nicht ernst, und ohne jene eigentümliche Falte auf der Stirn Scherze machte und den Braten lobte? Zwischen den Gängen diskutierte der Vater lebhaft mit ihm über die letzte Jagd. Mutters Gesicht trug einen Hauch von Farbe, und sie drängte den Gast sanft, von jedem Gericht mehrere Nachschläge zu versuchen. Er ließ es sich mit einem Lächeln gefallen, halb entschuldigend, halb behaglich.
    »Vielen Dank, Gnädige Frau, es ist auch wirklich zu
köstlich … Ja, vielleicht auch noch einen kleinen Tropfen Sauce …«
    Mina schwieg die meiste Zeit über, wie es sich gehörte. Aber der Doktor richtete immer wieder kleine, freundliche Bemerkungen an sie, wie er es schon seit einer Weile bei solchen Gelegenheiten tat, seit sie keine geringelten Kniestrümpfe mehr tragen musste und ihre Röcke angefangen hatten, die Knie zu umspielen.
    »Und die junge Dame, glücklich, der Schulzucht entronnen zu sein? Ja? Das ist verständlich. Obwohl Mademoiselle vielleicht nicht allzu streng war, möchte ich meinen. Wenn ich da an die Dorfschullehrer denke, was die Kinder dort auszuhalten haben! Das sind Zustände, Fräulein Wilhelmina, Zustände …!« Er ließ sich noch einen Löffel Preiselbeerkompott reichen. »Man muss die Obrigkeit mit der Nase darauf stoßen, wie rückständig es auf den Dörfern zugeht. Natürlich«, er neigte

Weitere Kostenlose Bücher