Der Sieger bleibt allein (German Edition)
ein Stückchen Luxus zu ergattern. Eine Welt, die sich um Gerechtigkeit kümmern sollte, kreist um etwas Materielles, das schon in einem halben Jahr nicht mehr angesagt ist und durch etwas anderes ersetzt werden muss, und so kann sich der Zirkus jener verachtenswerten Kreaturen, die sich jetzt in Cannes tummeln, weiterhin an der Spitze der Welt halten.
Igor lässt sich selbstverständlich nicht von dieser zerstörerischen Macht beeinflussen. Er hat immer noch eine Arbeit, um die er zu beneiden ist. Er verdient immer noch mehr Geld am Tag, als er in einem Jahr ausgeben kann, auch wenn er sich vornehmen würde, sich alle nur erdenklichen legalen und illegalen Genüsse zu erlauben. Er hat keine Schwierigkeiten, eine Frau zu verführen, noch bevor sie weiß, ob er ein reicher Mann ist oder nicht – das hat er schon viele Male ausprobiert, und es hat immer geklappt. Er ist gerade 40 geworden, ist gesundheitlich fit. Bei seinem jährlichen Check-up ist wieder mal nichts gefunden worden. Er hat keine Schulden. Er hat es nicht nötig, bestimmte Designerlabels zu tragen oder in angesagten Restaurants zu verkehren, die Ferien an dem Strand zu verbringen, »an den alle fahren«, und er muss auch nicht ein bestimmtes Uhrenmodell kaufen, nur weil ein erfolgreicher Sportler dazu rät. Er kann wichtige Verträge mit einem Kugelschreiber unterschreiben, der nur wenige Cent gekostet hat, bequeme Jacketts tragen, die in einem kleinen Laden neben seinem Büro ohne irgendein sichtbares Etikett mit der Hand angefertigt werden.
Vielleicht liegt gerade darin das Problem: Seine Arbeit begeistert ihn. Und er glaubt zu wissen, dass aus ebendiesem Grund die Frau, die vor ein paar Stunden in die Bar gekommen war, nicht an seinem Tisch sitzt.
Er hängt weiter seinen Gedanken nach. Bestellt bei Kristelle noch einen Whisky – er kennt den Namen der Kellnerin, weil sie vor einer Stunde, als noch nicht so viel los war (weil die meisten anderen Gäste noch anderswo beim Dinner saßen) und er seinen ersten Whisky bestellte, zu ihm gesagt hatte, er wirke traurig, ob er nicht zur Aufmunterung etwas essen wolle. Er hatte sich für ihre Fürsorglichkeit bedankt und sich darüber gefreut, dass jemandem sein Wohlergehen am Herzen lag.
Vielleicht ist er ja der Einzige, der weiß, wie die Bedienung heißt. Die anderen Gäste interessieren sich bestimmt nur für die Namen und die berufliche Stellung der Gäste an den Tischen oder in den Lehnsesseln.
Inzwischen ist es schon nach drei Uhr morgens – und die schöne Frau und der höfliche Mann, der ihm im Übrigen sehr ähnlich sieht, sind nicht wieder aufgetaucht. Sie sind vermutlich direkt aufs Zimmer gegangen und lieben sich jetzt, vielleicht trinken sie aber auch noch Champagner auf einer der Jachten, auf denen die Partys erst losgehen, wenn sie überall sonst zu Ende gegangen sind. Vielleicht aber liegen die beiden auch nur Seite an Seite im Bett, lesen Zeitschriften und schauen einander nicht an.
Das ist unwichtig. Igor ist allein, müde, er muss schlafen.
7 Uhr 22
Igor wacht um 7 Uhr 22 auf. Er hätte gern länger geschlafen, aber sein Körper hatte noch nicht genug Zeit, sich an den Zeitunterschied zwischen Moskau und Paris zu gewöhnen. Zu Hause in Moskau hätte er jetzt bereits zwei oder drei Besprechungen mit seinen Mitarbeitern hinter sich und würde gerade aufbrechen, um einen weiteren Kunden zum Arbeitsfrühstück zu treffen.
Doch hier in Cannes erwartet ihn eine andere Aufgabe: Er muss einen Menschen finden, den er im Namen der Liebe opfern kann. Er braucht ein Opfer. Ewa soll noch an diesem Vormittag seine Botschaft erhalten.
Er nimmt ein Bad, geht hinunter, frühstückt in einem fast leeren Restaurant und macht dann einen Spaziergang auf der Croisette, der Uferstraße, an der die Luxushotels liegen. Es herrscht kein Verkehr – eine Fahrspur ist gesperrt, und nur Wagen mit offizieller Genehmigung dürfen sie befahren. Die andere Fahrspur ist leer, weil die Einheimischen noch nicht zur Arbeit aufgebrochen sind.
Er fühlt keinen Groll – die schwierigste Phase, in der er vor lauter Schmerz und Hass nicht schlafen konnte, ist bereits überwunden. Heute kann er Ewa verstehen: Letztlich ist Monogamie ein Mythos, der dem Menschen von jeher eingetrichtert worden ist. Er hat viel darüber gelesen: Die Neigung zum Seitensprung hat nichts mit Hormonüberschuss oder Eitelkeit zu tun. Es handelt sich vielmehr um eine genetische Veranlagung, wie sie praktisch bei jedem Tier
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