Der Sieger bleibt allein (German Edition)
Art und Weise, den Tag zu beginnen – über etwas Tiefsinnigeres als über den Preis von Kunsthandwerk zu sprechen.
»Und worin besteht für Sie der Sinn des Lebens?«
»Nun, ebenfalls darin, zu lieben. Als ich so alt war wie Sie, war es mir auch wichtig, Geld zu verdienen, um meinen Eltern zu zeigen, dass ich Erfolg haben konnte. Ich habe es geschafft, und heute sind sie stolz auf mich. Ich habe die vollkommene Frau gefunden und geheiratet, hätte gern Kinder mit ihr, möchte ein gottesfürchtiges Leben führen.«
Olivia fand es zu heikel, zu fragen, warum er noch keine Kinder habe.
»Wir haben mit dem Gedanken gespielt, ein Kind zu adoptieren. Zwei oder drei Jahre haben wir darüber nachgedacht. Aber dann wurde unser Leben sehr umtriebig – Reisen, Partys, geschäftliche Meetings.«
»Als Sie sich vorhin neben mich auf die Bank gesetzt haben, dachte ich, Sie seien einer dieser exzentrischen Millionäre auf der Suche nach einem Abenteuer. Aber es ist nett, sich mit Ihnen zu unterhalten.«
»Denken Sie an Ihre Zukunft?«
»Wenn ich es recht bedenke, sind meine Träume ganz ähnlich wie Ihre. Ich möchte natürlich auch Kinder haben.«
Sie macht eine Pause. Sie will ihren unverhofften Gesprächspartner nicht verletzen.
»...ich meine, wenn möglich. Manchmal hat Gott ja andere Pläne.«
Er scheint ihre Antwort nicht gehört zu haben.
»Kommen nur Millionäre zum Festival?«, fragt er.
»Millionäre, viele Leute, die so tun, als wären sie’s, oder solche, die’s werden wollen. In diesen Tagen gleicht Cannes einem Irrenhaus, alle tun sich wichtig – außer den wirklich wichtigen Leuten, die sind freundlicher, die müssen niemandem etwas beweisen. Sie kaufen mir nicht immer etwas ab, aber sie lächeln wenigstens, sagen ein paar freundliche Worte und behandeln mich respektvoll. – Und was führt Sie hierher?«
»Gott hat die Welt in sechs Tagen erschaffen. Was aber ist die Welt? Sie ist das, was Sie und ich sehen. Jedes Mal, wenn ein Mensch stirbt, stirbt auch ein Teil des Universums. Alles, was dieser Mensch gefühlt, erfahren, betrachtet hat, verschwindet mit ihm, genauso wie Tränen im Regen.«
»›Wie Tränen im Regen‹, ja, ich habe einmal einen Film gesehen, in dem dieser Satz vorkam. Ich weiß aber nicht mehr, wie der Film hieß.«
»Ich bin nicht zum Weinen hergekommen. Ich bin gekommen, um der Frau, die ich liebe, Botschaften zu schicken. Und dazu muss ich ein paar Welten zerstören.«
Anstatt über diese Bemerkung zu erschrecken, lacht Olivia. Dieser gutaussehende, gut gekleidete, fließend Französisch sprechende, etwa 40-jährige Mann wirkt keineswegs verrückt. Sie hat es satt, immer dieselben Sätze zu hören: Du bist sehr hübsch, du könntest ein besseres Leben haben, was kostet dies, was kostet das, das ist wahnsinnig teuer, ich drehe noch eine Runde und komme dann wieder (was natürlich nie passierte), und so weiter und so fort. Dieser Russe hat wenigstens Humor.
»Und weshalb eine Welt zerstören?«
»Um meine aufzubauen.«
Olivia könnte jetzt versuchen, den Mann zu trösten. Aber sie hat Angst, den berühmten Satz zu hören: ›Ich möchte, dass du meinem Leben einen Sinn gibst.‹ Dann würde sie das Gespräch sofort abbrechen, denn ihre Zukunftspläne sehen anders aus. Außerdem wäre es völlig idiotisch, zu versuchen, einem älteren, erfolgreichen Mann Tipps zu geben, wie er seine Probleme lösen soll.
Sie muss mehr über sein Leben erfahren. Schließlich hat er – und wahrlich gut – für ihre Zeit bezahlt.
»Und wie wollen Sie das machen?«
»Was wissen Sie über Frösche?«
»Frösche?«
Er fährt fort:
»Verschiedene biologische Untersuchungen zeigen, dass ein Frosch, den man in einen Behälter tut, in dem sich Wasser aus seinem Habitat befindet, während der ganzen Zeit, in der wir selbiges Wasser erhitzen, hochzufrieden ist. Der Frosch reagiert nicht auf das allmähliche Ansteigen der Temperatur, die Veränderungen seines Umfeldes, und stirbt, aufgebläht und glücklich, wenn das Wasser kocht.
Dagegen springt ein Frosch, der ins kochende Wasser geworfen wird, angeblich sofort wieder heraus. Halb verbrüht – aber lebendig!«
Olivia versteht nicht recht, was dies mit der Zerstörung der Welt zu tun haben soll. Igor fährt fort:
»Ich habe mich genau wie so ein Frosch aufgeführt, der allmählich verkocht. Ich dachte, alles sei in Ordnung, das, was nicht gut war, würde schon vorbeigehen, es wäre nur eine Frage der Zeit. Ich war bereit zu sterben, weil
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