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Der silberne Sinn

Titel: Der silberne Sinn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ralf Isau
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wir werden der Kirche bald den Rücken kehren. Ich bin nur gekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten. Der Reverend hat alle Pässe eingesammelt. Sollte es meinem Mann, meiner Tochter und mir gelingen, von hier zu fliehen, dann werden wir neue Papiere benötigen.«
    »Das wäre kein Problem. Mr Dwyer – er gehört zum Stab unserer Botschaft hier in Guyana – wird alles Nötige veranlassen. Aber warum kommen Sie nicht gleich mit? Ich denke, die Medienleute, die mich begleiten, sind vernünftige Menschen. Wenn ich ihnen die Umstände erkläre, könnten Sie und Ihre Familie ganz diskret von hier verschwinden. Heute Abend oder spätestens morgen wären Sie außer Landes. Was halten Sie davon?«
    »Christine!«
    Rachel erschrak. Ihre schwarzbraunen Augen blickten schuldbewusst zum Podium hin, von wo Reverend Jones ihr zulächelte. Er winkte ihr zu und rief: »Du hast eine Erfrischung für unsere Gäste gebracht, wie schön! Ist für uns noch ein Glas übrig?«
    »Gerade noch zwei«, antwortete Rachel lachend. Als sie unter das Zinndach des Pavillons treten wollte, hielt Ryan sie am Oberarm fest.
    »Christine?«
    Sie lächelte, aber in ihren Augen spiegelte sich Angst. »So lautet mein zweiter Vorname. Wenn man so will, ein Vermächtnis meiner Mutter. Sie kommt aus Lowell, Massachusetts.«
    »Ich hätte Sie eher für eine Mexikanerin gehalten, Mrs Bellman.«
    »Das muss dann wohl an den Genen meines Vaters liegen. Er stammt aus einer der ältesten Familien von Aguascalientes. Die dunklen Haare habe ich allerdings von meiner Mutter geerbt – mein alter Herr ist blond wie ein Wikinger.«
    »Die Natur geht manchmal seltsame Wege! Was hat der Reverend eigentlich an ›Rachel‹ auszusetzen?«
    Jerrys Mutter löste sich sanft, aber bestimmt aus dem Griff des Politikers und flüsterte: »Es heißt, Jim Jones habe schon immer seinen eigenen Kopf durchgesetzt, wenn es um Frauen geht.«
    Rachel setzte ihren Fuß in den Pavillon, drehte sich dann aber doch noch einmal zu dem Politiker um. »Wenn Sie uns ohne Medienrummel hier herausbringen können, dann wird sich mein Mann gegen eine sofortige Abreise nicht sperren.«
    Ryan deutete ein Nicken an. »Meine Assistentin wird Ihnen Bescheid geben.« Nachdenklich blickte er der schlanken Gestalt nach, die ihr Tablett geschickt durch die Stuhlreihen im Pavillon balancierte. Der Reverend empfing Rachel mit finsterer Miene. Offenbar wollte er wissen, was sie so lange mit dem Congressman zu bereden hatte. Ihr helles Lachen hallte unter dem Dach der Versammlungshalle wider. Sie würde Jones eine Geschichte über Limonade und mexikanische Gene erzählen. Diese junge Frau war mutig, und sie besaß Verantwortungsgefühl. Ryan spürte das unbändige Verlangen, den Bellmans zu helfen…
    »Leo, darf ich Sie einen Augenblick sprechen?«
    Diesmal zuckte Ryan regelrecht zusammen. Als er sich umwandte, sah er sich einer Gruppe von Personen aus der Siedlung gegenüber, angeführt von dem NBC-Korrespondenten. »Don, müssen Sie mich so erschrecken!«
    Der rotblonde Reporter grinste über das ganze sommersprossige Gesicht, »‘tschuldigung, Leo, war nicht meine Absicht. Das hier ist Edith DePriest. Sie und ihre Familie wollen Jonestown verlassen.«
    »Und zwar auf dem schnellsten Wege«, fügte Edith hinzu und verschränkte die Arme vor ihrer gewaltigen Brust.
    Ryan stöhnte. »Allmählich mache ich mir Sorgen über unsere Transportkapazität. Wir hätten einen Jumbo chartern sollen. Warum haben Sie es so eilig, Mrs DePriest?«
    Edith fasste kurz die Geschichte ihres Fluchtplans zusammen, der am Morgen wie Sägemehl zerstoben war. Als sie ihren Bericht schloss, schien der Mut sie verlassen zu wollen. »Joe Wilson hat uns zurückkehren sehen, ausgerechnet einer der Sicherheitschefs von Jonestown! Congressman Ryan, ich habe Angst um unser Leben.«
    Ryan nickte wie jemand, der sich gerade über eine Angelegenheit von großer Tragweite klar wurde. Zu seiner Erleichterung sah er in diesem Moment Jackie Tailor herankommen. Sie trug einen Kassettenrecorder über der Schulter und umarmte ein Klemmbrett, vermutlich mit der Liste der Aussteiger. Er winkte ihr zu, und sie beschleunigte ihren Schritt.
    »Wie groß ist Ihre Gruppe, Mrs DePriest?«
    »Kann ich nicht sagen. Die Sturges wollen auch mitkommen, Sie…«
    »Entschuldigen Sie, Mrs DePriest«, unterbrach Ryan die Frau und wandte sich seiner soeben eingetroffenen Assistentin zu. Er musste die Stimme heben, weil das Interview beim Podium gerade in einen hitzigen

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