Fremde Federn
Martha Grimes - Inspektor Jury 12 - Fremde Federn
Eigentlich wollte Superintendent Richard Jury von Scotland Yard einmal Urlaub machen. Doch dann wird er von einer alten Freundin gebeten, in Amerika den mysteriösen Tod von Philip Calvert aufzuklären, eines Mitarbeiters der weltberühmten Barnes-Stiftung. Zusammen mit Sergeant Wiggins und seinem adeligen Freund Melrose Plant macht Jury sich also auf nach Pennsylvania.
Dort werden die drei Briten von der berühmten Schriftstellerin Ellen Taylor empfangen, die ihnen von der schwarzen Studentin Beverly Brown erzählt. Davon, daß die junge Frau behauptet hat, ein verschollenes Manuskript von Edgar Allan Poe entdeckt zu haben. Daß sie etwas über den Mord an Philip Calvert herausgefunden haben wollte. Und daß die Studentin ausgerechnet in der Nacht von Edgar Allan Poes Geburtstag an dessen Grab ermordet wurde. Aber was wußte Beverly Brown wirklich? Warum mußte sie sterben? Und vor allem: was hat das alles mit dem Tod von Philip Calvert zu tun?
Auf getrennten Wegen machen sich Superintendent Jury, Sergeant Wiggins und Melrose Plant an die Ermittlungen. Die Zeit drängt, denn wie es scheint, kann schon bald der nächste Mord geschehen.
Martha Grimes zählt zu den erfolgreichsten und meistge-lobten Autorinnen unserer Zeit. Sie wurde in Pittsburgh geboren und studierte an der University of Maryland. Martha Grimes unterrichtete lange Zeit kreatives Schreiben an der Johns-Hopkins-University und lebt heute abwechselnd in Washington, D. C, und in Santa Fe, New Mexico.
Für Laura Scott Perry, eine Freundin in Nickel City.
Kultiviert und heiter, verdorben und galant.
F. Scott Fitzgerald über Baltimore
TEIL I
CIDER ALLEY
Kapitel 1
Der Blinde roch etwas Neues in der Cider Alley, einen neuen Gestank, der sich mit dem nach Urin und Schweiß, Bier und Whisky vermischte und aus einem Hauseingang kam (glaubte er zumindest), in dem sonst immer eine Gruppe Männer herumstand. Wenn er durch die enge Straße ging, gab es meist ein paar unverbindliche Begrüßungen - ein Schulterklopfen, die Berührung einer Hand auf seinem Arm, ein lautes Hallo. Mitleidige Gesten und rührselige Worte haßte er und wehrte sie ab. Er fühlte sich den anderen Obdachlosen überlegen: Mit Zähigkeit, scharfem Verstand und spitzer Zunge hatte er seinen Platz auf dem Luftschacht schon über ein Jahr behauptet. Sein Fleckchen. Die Leute kannten ihn.
Der Blinde verabscheute es, wenn ihm jemand zu nahe trat, es sei denn, er selbst fragte nach der Uhrzeit oder dem Weg. Er weigerte sich, den Bürgersteig mit einem weißen Blindenstock abzuklopfen, aber er besaß einen Spazierstock aus Bruyereholz und benutzte ihn durchaus, wenn ihm jemand komisch kam - oder einfach nur lästig wurde.
Nicht mit dem Spazierstock, sondern mit der Schuhspitze blieb er in einem weichen, fremden Gegenstand hängen und schlug beinahe hin. Doch Hindernisse war er gewöhnt, und rasch fand er das Gleichgewicht wieder.
Er war auf die Quelle des ungewohnten Geruchs gestoßen. Er kniete sich hin und strich mit der Hand über rauhen Stoff und weiche Haut.
Ein Mann. Gestürzt, wahrscheinlich betrunken. Er tastete ihn sorgfältig ab; sein Tastsinn war noch ausgeprägter als sein Geruchssinn. Er berührte etwas Vertrautes, ein grobes Kreuz, das sein Freund immer um den Hals getragen hatte. John-Joy. Seine Finger glitten zuerst über den vertrauten Mund und dann über die Anzugjacke darunter. Bevor er noch mit seinem Gewissen kämpfen konnte, hatte er die Jacke schon genommen und gegen seine eigene vertauscht. Die von John-Joy war unendlich viel besser: teure, feine Wolle, er hatte sich immer gewundert, wer wohl ein solches Kleidungsstück in den Müll geworfen hatte. Nun würde John-Joy aufwachen, wieder zu sich kommen und feststellen, daß er Milos’ alte graue Jacke aus dünnem Leinen trug. Nicht das Wahre für eine Januarnacht. Aber John-Joy, der verstand einen Scherz.
Oder?
Er roch ja gar nicht nach Alkohol. Schnell tastete Milos ihn von Kopf bis Fuß ab. Der Geruch hing schwer in der Luft; Milos mußte nicht erst spüren, wie klebrig seine Hand plötzlich war, um Bescheid zu wissen.
Seine Zunge, sein Mund formten sich zu einem Schrei, von dem er wußte, daß er zu hören war, auch wenn er selbst nichts hörte. »Polizei!«
Mit der einen Hand kratzte er über den kalten Stein des Gebäudes; mit dem Stock in der anderen hieb er um sich und brüllte noch lauter: »Polizei! Polizei!«
Die Leute waren immer wieder verblüfft
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