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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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öffnete und schloss den Mund mit einem leisen Schmatzen. Auch er selbst hatte Hunger, aber es war nur ein Ziehen in der Magengegend, das er verspürte, fremd und ohne Bedeutung, fast so, als gehöre es nicht mehr zu ihm. Noch immer starrte er hinauf zu den Bergen. Die wenigen Lichter der Bergdörfer zitterten wie weit entfernte Sterne, und hinter dem höchsten der Berge wuchs der milchweiße Hof des aufgehenden Mondes.
    Der nahende Tod schien ihm plötzlich wie ein Ziel, auf das hin sein Leben sich verengte, seit Jahren schon, vielleicht seit jenem Tag, an dem er beschlossen hatte, die Schule zu verlassen, um sich seinen Anteil am Ruhm des Reiches zu sichern. Georg und er. Er und Georg.
    Wie viele Möglichkeiten hat man mit zwanzig, mit achtzehn, mit siebzehn? dachte er. Aber mit jeder Entscheidung, die man traf, so schien es ihm an diesem Abend, starb man ein Stück. Indem man eine Wahl traf, indem man etwas wurde, verwarf man zugleich unzählige andere Möglichkeiten. Welch ungeheure Verschwendung! Konnte eine einzelne Sache so wertvoll sein, dass man um ihretwillen auf alle anderen verzichtete, konnte ein Mensch so wichtig sein? Wie war das möglich? Konnte es eine Frau geben, die alle anderen aufwog, die man nicht heiratete? Das Kind, das man zeugte, der Beruf, dem man sich verschrieb? Wie leichtfertig nahm man das eine oder das andere, begnügte sich mit dem Nächstbesten, dem nahe Liegenden, ohne den Schmerz des Verlustes zu erahnen, der einem in späteren Jahren die Nächte schwer werden ließe.
    Zum ersten Mal seit langer Zeit sah er sein Leben vor sich, die fast hundert Jahre, die ihm vergönnt gewesen waren, die fast hundert Jahre, zu denen er verdammt gewesen war. Es war kein gleichmäßiges Band, das er vor sich sah, es gab Knoten, Verdickungen, in denen sich seine Vergangenheit ballte, zu pochen schien, als wolle sein Leben hinausplatzen aus den ihm zugewiesenen Orten und Zeiten, und es gab dünne Fäden entlang deren es sich zog, als würde es nur einer Winzigkeit bedürfen, um zu reißen, abzureißen für immer.
    Eine Hand voll Zufälle hatte sein Leben entschieden. Merkwürdig, dachte er, wie einfach es aussieht, blickt man zurück. Ein Nein, das ein Ja hätte werden können, ein Wort, ein Satz, statt Schweigen. Kleinigkeiten, Zufälle. Eine Frau, die man küsst oder nicht küsst, eine Hand, die man zurückzieht, anstatt zuzupacken, festzuhalten. Er dachte an Georg, seinen besten Freund und Schulkameraden, an seinen Schwiegervater damals in der Dunkelheit jener Höhle, an seinen sterbenden Sohn. Er dachte an Laura, an das Land, das ihm zu einer zweiten Heimat geworden war, trotz jener drohenden Dörfer oben auf dem Berg, und an seine alte Heimat, seine eigentliche. Merkwürdig, dachte er, wie wenig er verstand, wie wenig Plan und Ziel hinter all dem zu stecken schien, merkwürdig, dass er trotz des Alters, das er erreicht hatte, noch immer keinen tieferen Sinn in dem sah, was er getan hatte, was er getan hatte und was ihm widerfahren war.
     
    1. Buch
     
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    Noch vor dem Abendessen, das es den heimischen Sitten gemäß nicht vor 20 Uhr geben sollte, trieb es ihn ans Meer. Er ging die Straße hinunter einfach der Junisonne entgegen, die noch hoch im Westen stand, und während er die wenigen Meter bis zur Verladestation zurücklegte, dachte er an die Ostsee zurück, an die Nordsee, an die Meere seiner Kindheit und Jugend, an einen Landschulheimaufenthalt in St. Peter Ording, und ihm schien, sein Herz klopfe genauso laut wie damals mit fünfzehn im ersten Kriegswinter, in jenem Kriegswinter, den es eigentlich nicht hätte geben sollen, so kurz sollte der Krieg werden, in den er seinen Bruder neidisch hatte ziehen lassen müssen. Hella mit ihren blonden Zöpfen fiel ihm ein. Die stumme Hella, die jeden Abend vor dem Haus Wiking auf ihn zu warten schien, eine streng, eine abweisend dreinblickende Hella, die er erst am letzten Abend anzusprechen gewagt hatte. Hella, was hätte aus uns werden können, dachte er zum wer weiß wie vielten Male und fragte sich, ob auch hier eine andere Hella, eine Maria oder Eva oder Julia auf ihn wartete.
    Schon nach wenigen Schritten kam er ins Schwitzen, und er wünschte sich, er hätte etwas Leichteres angezogen, den hellen Leinenanzug beispielsweise, den er sich bei Schürmanns für diese Reise hatte schneidern lassen. Dazu kam der Staub, den er aufwirbelte, der im Abendwind über die Straße trieb und seine dunklen Schuhe mit einer feinen Schicht überzog.
    Gleich neben

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