Der Simulator
der Straße war das Gleis einer Schmalspurbahn. Auch dieses führte wie die Straße selbst geradewegs auf den hölzernen Anlegesteg der Verladestation hinaus. Heute, am Sonntag, war niemand zu sehen, nur ein paar Fischer saßen auf dem hintersten Rand der Plattform und hielten ihre Angeln in das leise gegen die Stützpfeiler schlagende Wasser. Auch er ging zum Ende der Landungsbrücke, ging über die grauen Eichenbohlen, um dann zurückzublicken zum Strand.
So wenig der Steg selbst mit den Stegen der mondänen Bäder der Ostsee gemein hatte, so wenig ließ auch der Blick auf den Strand Urlaubstimmung aufkommen. Auch wenn es tatsächlich Sand gab, einen fast einhundert Meter breiten Streifen, überall standen Wagen, niedere Pritschenwagen zumeist mit eisenbeschlagenen Rädern, türmten sich Hölzer, verrotteten allerlei Gerätschaften in der salzigen Luft. Und auch die Kräne, die Flaschenzüge, die rostig in den Himmel ragten, ließen eher an einen kleinen Industriehafen denken als an den Strand von Portoclemente, einen der bekanntesten italienischen Badeorte.
Gleichgültig womit, es wäre an diesem Tag unmöglich gewesen, seine Abenteuerlust zu dämpfen. Zum ersten Mal seit Jahren ließ er sich von ihr davon treiben, und die Angst, die ihn vorher ein ums andere Mal zurückgeholt hatte, schien verschwunden. Nur Georg durchstreifte noch seine Träume, als habe er ein Recht darauf, lebenslang. Dass ihn der Anblick der einfachen Hafenanlage nicht ernüchterte, lag aber auch an das, was dort verladen wurde: Marmor!
Rechts und links der Straße, am Strand, auf den flachen Dünen dahinter bis hinauf zu den ersten Häusern des Dorfes, überall standen, mal in Reih und Glied, mal scheinbar willkürlich verteilt, die Blöcke. Quader, Würfel, dicke Platten, in große Holzkisten verpackt oder einfach auf Stämmen gebockt, tonnenschweres Gestein, das auf seinen Abtransport in die ganze Welt wartete.
Während das Wasser in das Holz zu seinen Füssen klatschte, starrte er auf diesen merkwürdigen Friedhof, und er stellte sich die Männer vor, wie sie schwitzend an den Tauen zogen, die Ochsen, viele Paare davon vor einem einzigen Quader. Das ständige Kommen und Gehen, die von Schreien und Rufen schwirrende Luft, das Knirschen der zum Zerreißen gespannten Seile und das dumpfe Stöhnen der Tiere. Doch an diesem Tage glich dieses steinerne Feld tatsächlich eher einem Friedhof. Anstatt der Namen und Daten, mit roter Farbe aufgetragene Zahlen und Buchstaben, auch jene unentwirrbare Hinweise auf Herkunft und Bestimmung.
Als er dann hindurchging, fast ehrfürchtig, hielt er nach dem bekanntesten Stein Ausschau, dem Statuario , dem weißesten, dem makellosesten Marmor, den es gab. Michelangelo hatte daraus seinen David geschlagen und unzählige andere ihre Statuen, Kreuze, Obelisken, und alles, was wertvoll genug schien, aus einem solch reinen Material geschaffen zu werden. Das «weiße Gold« wurde es genannt, und vielleicht war es tatsächlich so selten geworden, bedrohte ihn die jahrtausendelange Jagd wie ein aussterbendes Tier, denn so weit er auch durch die stillen Reihen schritt, er fand nicht einen einzigen Block. Sicher, es gab weißen Marmor, den billigen Carrara Edilizia zum Beispiel, genannt Nostrano mit seinen feinen grauen Adern, aus dem man Treppenstufen und Fensterbänke machte, auch Waschbecken oder Spülen. Dann gab es den Arabescato Vagli , mit seinen grünlichen Einsprenkelungen, den rosa schimmernden Breccia , der gerade aus der Mode zu kommen begann, den Grigio Argento , den Nuvolato Apuano und den Piastraccia . Unzählige, zutiefst fremd klingende Namen, die er in den nächsten Wochen und Monaten aufschnappen sollte, ohne sie sich alle merken zu können. Doch so ausgefallen die Einschlüsse auch sein mochten, so farbig oder edel sie im polierten Zustand erschienen, die Sulfate und Salze, die Oxide oder um welche chemischen Verbindungen es sich auch handelte, sie waren Verunreinigungen. Nichts konnte es mit dem Statuario aufnehmen.
Schließlich fand er noch einen großen Block Bianco P , gleichfalls ein strahlend weißer Stein, dem allerdings die elfenbeinfarbene Wärme des Originals fehlte.
Er kehrte an den Strand zurück. Nur wenige Meter musste er gehen, um in Sichtweite der ersten Badeanstalten zu kommen. Die Sonnensegel waren schon eingeholt worden. Nur wenige Gäste streckten sich in ihren Liegestühlen der Abendsonne entgegen. Kinder spielten am Wasser, und ein paar hölzerne Boote schaukelten in der
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