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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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abblätternder Lack in seltsamem Widerspruch zu den verschnörkelten Aufbauten und den vergoldeten Buchstaben stand, daneben ein modernes Grammophon. Es spielte ein Klavierkonzert, das Maximilian nicht kannte.
    »Wir gönnen uns den Luxus, jeden Abend die passende Tischmusik zu spielen«, Arkadij, der ältere der russischen Brüder, war seinem Blick gefolgt. »Heute geht sie auf den Wunsch meiner Wenigkeit zurück. Rachmaninov. Dekadent, gewiss« - er lächelte seinem Bruder zu - »und doch sehr volkstümlich, warten Sie, bis Sie seine Symphonien gehört haben! Aber nehmen Sie doch Platz, mein lieber Maximilian! Es ist Ihnen doch recht, wenn ich Sie mit Vornamen anspreche? Unser amerikanischer Freund hat diese Unsitte bei uns eingeführt, und - stellen Sie sich vor! - sie gefällt uns!« Er zwinkerte Lidias Bruder zu. »Nicht alle haben einen Adelstitel, an den Sie sich gern erinnern lassen!«
    »Sie können mich Max nennen.« Er wunderte sich über seine Stimme, die seltsam belegt klang, und plötzlich fühlte er sich um Jahre zurückversetzt. Er stand vor seiner neuen Klasse. Mitten im Schuljahr von einem Ende Hamburgs zum anderen gezogen, hatte er sich vorgestellt und einen freien Platz suchen müssen. Sein Blick war durch die Reihen seiner zukünftigen Klassenkameraden gewandert, spöttisch feixende Gesichter, die sich einen Spaß daraus zu machen schienen, ihn zu verunsichern. Einzig ein blasser, fast kindlich wirkender Junge, saß etwas abseits von den anderen und sah durch ihn hindurch. Zu ihm setzte er sich. An diesem Abend hatte er zwei freie Plätze zur Auswahl, und er nahm jenen zwischen Matteo und dem Amerikaner. Anders als Jahre zuvor in der Unterprima, als er sich zu Georg gesetzt hatte, sollte diese Entscheidung weniger folgenschwer sein. Es gab keine feste Tischordnung, und jeden Abend sorgten andere Tischnachbarn für Abwechslung.
    Die Gespräche wurden wieder aufgenommen, und die Aufmerksamkeit, mit der man den Neuankömmling bedacht hatte, war genauso schnell verebbt, als hätte man das Licht auf seiner Tischseite gedämpft, und tatsächlich meinte Maximilian dankbar, in ein wohltuendes Dunkel zu versinken. Man trank Aperitifs und verstummte erst wieder, als Piero in die Hände klatschte, um zu fragen, wer an diesem Tage Fisch oder Fleisch wünsche. Das war die einzige Wahl, die man hatte, sah man vom Obst ab, das nach dem Hauptgang in großzügiger Auswahl aufgetischt wurde, und so besprach man in einiger Ausführlichkeit die Vor-und Nachteile der beiden Gerichte. Maximilian entschied sich für das in Soße gekochte Zicklein.
    Doch zuerst gab es Nudeln mit Tomatensoße, den sogenannten primo, und so sollte es jeden Abend sein: spaghetti, spaghettini, didali, farfalle, fusilli, penne und wie sie alle hießen, Namen, die der Form geschuldet waren, wie ihm Laura irgendwann in der Küche erklärte, Schmetterlinge, Federn oder Fingerhüte und was die Phantasie sonst hergab. Zwei große Schüsseln wurden auf den Tisch gestellt, und jeder bediente sich daraus, immer darauf achtend, noch genügend Appetit für den secondo , den eigentlichen Hauptgang, aufzusparen, was angesichts von Pieros Kochkünsten nicht einfach war. Nur freitags gab es Suppe, minestrone zumeist, und dann entfiel auch die Wahl zwischen dem Fisch und dem Fleisch. Zu besonderen Anlässen oder an Feiertagen tischte Piero seine berühmte lasagne auf, dann stöhnte er schon lange vorher, dass eine gute Soße sechs Tage auf dem Feuer köcheln müsse, und er nachts mindestens zwei Mal aufzustehen habe, um sie umzurühren. Da Pieros Frau eine gebürtige Venezianerin war, wurde der toskanische Speiseplan gelegentlich durch polenta , gekochtes Maismehl, und manch einer Spezialität aus ihrer Heimat aufgelockert, Rinderleber mit Zwiebeln etwa. Eine lokale Besonderheit waren die Esskastanien, die vor allem als Mehl in Kuchen, aber auch in vielen anderen Gerichten und sogar beim Brotbacken verwendet wurden.
    Je länger das Essen andauerte, desto lebhafter wurden die Gespräche. Auf dem Tisch standen zwei große gläserne Karaffen mit Chianti. Der rote war hell wie ein Rosé, der weiße dunkelgelb, fast rötlich, so dass sie im schwachen Licht kaum zu unterscheiden waren. War der Pegel in einer der Karaffen so weit gefallen, dass ein baldiges Versiegen drohte, beeilte sich jemand hinauszugehen, um sie aus großen Korbflaschen auffüllen zu lassen. Es wurde gelacht und geschrieen, und nur selten gelang es jemanden, die Nebengespräche zum Erliegen

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