Der Simulator
ich ihm damals ein Gedicht geschrieben. Auf Deutsch. Schließlich komme ich aus Frankfurt.
Warum interessierst du dich so für ihn? Bist du Journalistin oder so was? Na ja, es geht mich nichts an. Ich will dir alles erzählen. Warum nicht? Nach bestem Wissen und Gewissen. Sagt man das so? Lass mich überlegen. Ich glaube, es ist Jahre her, dass ich zum letzten Mal an ihn gedacht habe.
Es war in Bologna. Und in Italien. Na ja, Bologna liegt in Italien. Ich meine, wir waren noch woanders. Er hatte einen nagelneuen Fiat Uno, und mit dem sind wir an die Küste gefahren. In die Cinque Terre, glaube ich. Aber das war am Schluss. Es liegt ja alles so nahe beieinander. Es waren nur ein paar Wochen. In Deutschland habe ich ihn nur noch einmal gesehen.
Also Bologna. Es muss im Sommer 1986 gewesen sein. August. Mein Professor hatte mich zum Doktorandenkolloquium der Europäischen Gesellschaft für Sozialpsychologie angemeldet. Klingt, als wäre es gegen meinen Willen gewesen, und so war es auch. Ich hatte keine Lust hinzufahren. Drei Wochen in einer fremden Stadt, drei Wochen unter lauter fremden Menschen. Und mir ging es schlecht damals. Ich hatte mich kurz zuvor von meinem Freund getrennt, und es verging kein Tag, an dem ich nicht geheult habe. Aber dann habe ich gedacht, warum nicht? Warum nicht Bologna? Vielleicht kommst du auf andere Gedanken.
Weißt du, Bologna ist eine wunderbare Stadt. Wo du hinschaust, Arkaden. Bogengänge, Säulen. Es ist die perfekte Stadt für einen Regentag. Du kannst stundenlang durch die Stadt laufen, ohne nass zu werden. Leider hat es in diesen drei Wochen kein einziges Mal geregnet. Ich habe gedacht, komm im Herbst wieder, im November. Aber wie das so ist. Man nimmt sich so vieles vor!
Und die Universität! Ich glaube, sie ist die älteste Europas. Seminarräume wie im Kloster. Meterdicke Mauern, dunkles, uraltes Holz. Überall Balken an den Decken. Kaum ein Lichtstrahl, der von draußen hereingefallen wäre. Zum Glück, müsste ich sagen, denn wir schwitzten trotzdem, tropften den ganzen Tag vor uns hin, als würden wir langsam schmelzen.
Wir waren etwa sechzig Leute, Doktoranden aus ganz Europa. Dazu kamen die Profs, ganz illustre Namen übrigens. Gut organisiert und vor allem völlig kostenlos. Dafür haben wir in winzigen Zweibettzimmern im Gästehaus der Uni gewohnt. Aber dazu später.
Die anderen kamen aus den verschiedensten Ländern. Auch aus dem Osten. Ich erinnere mich vor allem an die Polen. Vielleicht wegen der Frauen. Dann Franzosen, Engländer, Spanier, Portugiesen. Wir Deutsche waren zu sechst oder zu siebt. Hängt davon ab, wo du mich dazuzählst. Und natürlich die Italiener, die waren die größte Gruppe.
Vielleicht denkst du, dass ich abschweife, aber das ist nicht so. Bologna ist wichtig. Wir waren uns beide so fremd, wir waren beide so mit uns selbst beschäftigt, dass wir uns unter anderen Umständen nicht einmal angesehen hätten. Wir waren nicht füreinander bestimmt, wie man so schön sagt, und haben nie aufeinander gewartet. Es war Zufall, ein glücklicher Zufall, ein Zufall, der ohne diese Stadt nicht möglich gewesen wäre, ohne diese seltsame Stimmung, das Neue, von dem du ständig umgeben warst. Manchmal musst du weit gehen, um bei dir anzukommen, um Kraft zu schöpfen für das, was dich bei deiner Rückkehr erwartet. Und das haben wir getan. Er wie ich.
In der ersten Woche passierte nichts, jedenfalls nicht zwischen uns. Ich kann nicht einmal sagen, dass ich ihn groß beachtet hätte. Aber ich wusste seinen Namen, allein schon, weil er zur deutschen Fraktion gehörte. Er hatte in Heidelberg studiert, glaube ich, und promovierte in Mannheim. Dass es da überhaupt Sozialpsychologie gab!
Wie soll ich ihn beschreiben? Er war sehr widersprüchlich. Er konnte so zurückhaltend sein, dass man ihn nicht wahrnahm, um sich kurz darauf bis zur Aufdringlichkeit um einen zu bemühen. Er schwieg stundenlang, brachte kaum ein Wort über die Lippen, um dich dann zuzuquasseln, dass dir der Kopf dröhnte. Und so war er auch beim Sex, er war der zärtlichste Mann, dem ich je begegnet bin, aber er konnte auch grob sein. Schwer zu verstehen, ich weiß.
Auch fachlich war er schwer zu durchschauen. Die Professoren schienen viel von ihm zu halten, aber er hatte wenig publiziert und arbeitete seit Jahren an einer Doktorarbeit, von der niemand wusste, wie weit sie gediehen war, geschweige denn, wann und ob sie jemals fertig würde.
Er wirkte sehr selbstsicher und behandelte uns
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