Der Simulator
Größerem fühlt. Historische Augenblicke, wie man so schön sagt. Nicht so bedeutend wie der 11. September, aber doch groß genug, um sich für den Rest seines Lebens daran zu erinnern. Vielleicht ist das verrückt, aber ich fühlte mich geborgen. Ganz und gar geborgen, trotz der Kälte, trotz der vorbeihastenden Menschen. Und ganz und gar wirklich.
Wahrscheinlich wirst du das nicht verstehen. Es war ein schreckliches Unglück, und ich war bei einem Mann, der nicht mein Freund war, ein Mann, zu dem ich alle paar Wochen ging, um mit ihm zu schlafen. Aber in diesem Augenblick da auf der Straße fühlte ich mich ihm näher als irgendwann sonst, ihm und mir und allen anderen Menschen auf der Welt.
In meinem Gedächtnis ist es hell. Ein strahlend kalter Wintertag. Und doch muss es schon 20 Uhr gewesen sein. Und dunkel, natürlich, sonst wäre die Haustür nicht abgeschlossen gewesen.
Im Grunde kann ich nicht viel über ihn erzählen. Ich kam gegen acht und blieb bis elf, manchmal ein paar Minuten länger. Ich wollte nicht zu spät nach Hause kommen, obwohl mein Freund wusste, wo ich war und was ich tat. Um Viertel nach acht lagen wir also schon im Bett. Wir schliefen zwei oder drei Mal miteinander. Dann zog ich mich an und er brachte mich die Treppe hinunter. In der Haustür blieb er lächelnd stehen, rauchte eine Zigarette und sah mir zu, wie ich meinen R5 aus einer zu schmalen Lücke zwischen den Platanen herausmanövrierte. Manchmal winkte er mir nach. Geredet haben wir nicht viel.
Er hatte eine kleine Wohnung, ein Wohn-Schlafzimmer mit Esstisch und zahllosen Bücherregalen. Ein langgezogenes, immer kaltes Bad und eine Küche, in der sich die Umzugskartons stapelten, obwohl er seit Jahren eingezogen war. Hinter einem niedrigen Raumteiler stand ein Schlafsofa, eines jener Ausführungen, die man elegant mit einer Hand aufklappen konnte und die ein perfektes französisches Bett ergaben. Nicht, dass er jemals viele Umstände gemacht hätte. Vielleicht beim ersten Mal. Ich erinnere mich nicht. Meistens war das Bett fertig, wenn ich kam. Auch angeboten hat er mir nichts. Ich hatte einmal erwähnt, dass ich keinen Wert auf Alkohol lege, und damit schien der Fall für ihn erledigt zu sein. Er war nicht der Typ, der einen mit einer Flasche Champagner im silbernen Kühler empfängt. Oder Kerzen aufstellt.
Das einzige Zugeständnis an eine romantische Atmosphäre war das Foto einer offenen Tür, durch die man hinaus ins Nichts sehen konnte. Das Bild war mit einer Reißzwecke auf Kopfhöhe des Bettes an die Wand gepinnt. Ein Schwarzweißbild, auf das er mit der Hand geschrieben hatte: »Wer, wenn nicht du, wann, wenn nicht jetzt?« Wenn er auf mir lag, drehte ich manchmal den Kopf zur Seite, um diesen Satz zu lesen. Immer und immer wieder zu lesen. Er hatte eine schöne, fast weibliche Schrift. Schlicht und geschwungen. Viele Rundungen, die aufeinander folgten wie die Rücken von Tieren. Eine endlose Folge von Ws und Ns, die vor meinen Augen im Rhythmus seiner Stöße miteinander verschmolzen.
Denke jetzt nicht, dass ich glaubte, was da stand, dass es mehr bedeutete als die Laune des Augenblicks. So naiv war ich nicht. Und dennoch verstand er es, einem genau dieses Gefühl zu geben. Jeder von uns wahrscheinlich. Und das waren nicht wenige, glaub mir.
Es fing schon so an. Das muss ein, zwei Jahre vorher gewesen sein. Sein Seminar hieß ‚Die Sozialpsychologie der Liebesbeziehung’ oder so ähnlich. Er mochte solche Themen: Attraktivität, Verliebtsein, Liebe… Schöne große Worte. Die Studentinnen, und es waren vorwiegend Studentinnen, hingen an seinen Lippen.
In der ersten Reihe saß Monica mit ihren Glubschaugen. Sie war ganz in Pink. Ich glaube, das war damals ihre Lieblingsfarbe, denn sie lief immer so herum. Ich fand Monica unglaublich attraktiv. Groß, dunkle Haut, kurzes schwarzes Haar. Androgyn würde man heute sagen. Wenn sie ein Mann gewesen wäre, hätte ich mich in sie verliebt. Na ja, bis auf die Augen, sie quollen ihr aus dem Gesicht, dass man Angst hatte, sie könnten herausfallen, so dunkel geschminkt, als müsse man das extra betonen, und glänzend, als stünden ihr Tränen darin. Aber das waren wohl die Linsen.
Und ich komme rein mit meinem langen blonden wallenden Haar – ich sah damals aus wie einer jener Rauschgoldengel, mit denen man den Weihnachtsbaum schmückt – stöckle zu einem freien Platz, es war wirklich voll, 15 oder 20 Leute, und lächle so unschuldig wie möglich. Das war das, was
Weitere Kostenlose Bücher