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Der Simulator

Der Simulator

Titel: Der Simulator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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andere ein wenig von oben herab, möglicherweise, weil er ein paar Jahre älter war als die meisten von uns. Aber als er einen Vortrag halten musste, war er nervös wie ein Erstsemester.
    Ich glaube, da habe ich zum ersten Mal etwas für ihn empfunden. Viele denken, sie werden dafür geliebt, dass sie groß und stark sind. Aber Liebe ist keine Bewunderung, Liebe ist ein kleiner Schmerz tief in uns drin. Eine Rührung, etwas, was dir unverhofft die Kehle zuschnürt und dir die Tränen in die Augen schießen lässt.
    Er stand da vorne mit seinen Folien in den zittrigen Händen und verhaspelte sich ständig. Vielleicht lag es daran, dass er auf Englisch vortragen musste, vielleicht an Professor Altomonte, der in der ersten Reihe saß und ihm aufmunternd zunickte. Er beeilte sich, fertig zu werden. Er ließ die Hälfte weg, kürzte oder hörte mittendrin auf. Ich weiß es nicht. Nach knapp sieben Minuten war er fertig, und die Moderatorin war genauso verblüfft wie wir alle. Aber sie war gut, eine ungeheuer selbstbewusste Engländerin indischer Herkunft, die ein perfektes Englisch sprach und sich bei ihm für die kostbare Zeit bedankte, die wir mit seiner Hilfe gewonnen hätten.
    An diesem Tag haben wir zum ersten Mal länger miteinander geredet. Es war in einem Self-Service-Restaurant. Wir hatten Essensgutscheine für eine Handvoll Restaurants und Bars, aber wir bevorzugten den Selbstbedienungsladen in der Via Zamboni, gleich an der Universität. Es gibt keine Stadt auf der Welt, wo du besser essen kannst, und für die Lasagne oder Melanzane alla Parmigiana, die du in Bologna in jedem Schnellimbiss bekommst, müsstest du in England oder in Deutschland jemanden töten.
    Die beiden Polinnen saßen an unserem Tisch. Die junge, sie hieß Helena oder so, war gerade mal 20 und hatte ihren Freund dabei, der kaum älter war und sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Die andere war in meinem Alter, eine linientreue Kommunistin, wie es schien, die mit einem Offizier verheiratet war. Der war logischerweise nicht dabei, sondern bewachte irgendwo die Grenze zur DDR. Es war ein erbitterter Streit über die polnische Gewerkschaftsbewegung entbrannt, aus der sich die Ausländer so gut wie möglich heraushielten.
    Ich erzähle das, weil er etwas Merkwürdiges sagte oder zumindest Unerwartetes. Damals schwärmte ja die ganze Welt für Lech Walesa und die Freiheitsbewegung, und die Frau dieses Offiziers, ich habe leider ihren Namen vergessen, stand auf verlorenem Posten. Sie war hübsch, hatte blondes halblanges Haar und eine Ernsthaftigkeit, die sie älter erscheinen ließ. Er sagte, er hege keinerlei Sympathie für diese Dissidenten. Es sei billig, nur gegen etwas zu sein und sich dem Westen an den Hals zu werfen.
    Ob er das ernst meinte? Ich weiß es nicht. Aber es war nicht seine Art, anderen nach dem Mund zu reden. Ich glaube, es missfiel ihm, dass sich alle so einig waren, ohne einen Augenblick darüber nachdenken zu müssen. Sie lächelte ihm zu. Ein Blick, den ich nicht vergessen werde und der mir einen Stich versetzte. Ich glaube, da war ich zum ersten Mal eifersüchtig.
    Er war sehr verliebt. Nicht in mich. Leider oder zum Glück. Aber das erzählte er mir erst später. Er hatte sechs Wochen zuvor eine Frau kennengelernt, eine Studentin an seinem alten Institut. Sie hieß Olivia, Liv eigentlich, und er schrieb ihr ständig ellenlange Briefe, die er mit Express abzuschicken pflegte. Wie kommt es, dass Verliebte es so eilig haben? Sie tun so, als ginge es um Leben und Tod. Nicht auszudenken, wenn es damals Handys gegeben hätte. Unsere Geschichte wäre heute nicht mehr möglich.
    Sie hat ihm nicht geantwortet, und das erfüllte mich mit einer seltsamen Mischung aus Genugtuung und Mitleid. Ich glaube nicht, dass das der Grund war, warum er mit mir etwas anfing. Die Unzuverlässigkeit der italienischen Post war damals sprichwörtlich, und nichts eignete sich besser für Schuldzuweisungen, wenn etwas nicht ankam. Wie viele der angeblich verlorengegangenen Briefe mögen nie abgeschickt worden sein?
    Ich glaube, er hat sich einige Tage gewehrt. Innerlich, meine ich, denn man hat es ihm nicht angesehen. Das war auch Teil seiner Widersprüchlichkeit. Einerseits hätte er gerne drei Wochen geschmachtet – es gibt keine Sehnsucht ohne Trennung, und das Unerfüllte ist nur mäßig schmerzhaft, wenn man weiß, dass es nur von kurzer Dauer ist – aber er war nicht der Typ, der lange allein sein konnte. Vielleicht brauchte er nur ein

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