Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
(nach zwanzig Jahren neu aufgelegt), dicht gefolgt von Heimat Babylon (1993) der beiden Frankfurter Autoren Daniel Cohn-Bendit und Thomas Schmid.
Diese beiden Texte markierten in ihrer Zeit eine deutliche Zäsur zu der abstrakten Solidarität der 68er Studentenbewegung mit den Völkern der »Dritten Welt« – eine Solidarität, die weitgehend abgekoppelt war von realen Begegnungen mit jenen idealisierten fernen Fremden, für deren reale Wunden man sich kaum interessierte. Symptomatisch hierfür war das große Interesse an Frantz Fanon, dem Apologeten rücksichtsloser Gewalt in Die Verdammten dieser Erde , zu Lasten jenes anderen Fanon, der sich 1952 in Schwarze Haut, weiße Masken als ein sensibler Analytiker kollektiver Traumata präsentierte. Dieser Text, der die Bedeutung einer intakten gesellschaftlichen Kultur für das Selbstbewusstsein von Einzelnen und Gruppen unterstreicht, wurde von den radikalen Studenten ignoriert oder missverstanden (vgl. Slobodian 2012: 204–206). Die von Fanon gelegte Spur taucht erst inder Diskussion des Multikulturalismus wieder auf, deren Protagonisten den Zusammenhang von kultureller Integrität und persönlicher Autonomie erneut hervorgehoben und systematisch untersucht haben.
An dieser Stelle möchte ich mich nur auf einige stillschweigende Annahmen der frühen deutschen Debatte konzentrieren, die mir fragwürdig erscheinen. Etwas plakativ lassen sich meine Bedenken und Ergänzungen unter drei Überschriften zusammenfassen. So scheint mir die allzu enge Verklammerung der Begriffe »Multikulturalismus« und »Einwanderung« problematisch zu sein; ich bestreite, dass der Multikulturalismus alternativlos ist; und ich finde, dass der von mir gegen den Zeitgeist verteidigte liberale Multikulturalismus nach seinen Zwecken befragt werden muss: Warum sollen wir uns für diese Form des Umgangs mit Differenz einsetzen?
Multikulturalismus und Einwanderung
Die beherrschende Idee der ersten Runde der Debatte war die enge Verknüpfung von Multikulturalismus und Einwanderung. Gelegentlich werden die beiden Begriffe sogar einfach gleichgesetzt. »Multikulturalismus«, so Leggewie in der Einleitung zur Neuauflage seines populären Klassikers, bezeichnet das Phänomen der »Masseneinwanderung« und der dadurch bewirkten kulturellen Verunsicherung innerhalb der Aufnahmegesellschaft (Leggewie 2011b: 7). Diese Aussage impliziert, dass durch Einwanderung kulturelle Differenzen in homogene Nationalstaaten importiert werden und damit zugleich eine postnationale Zukunft eingeläutet wird. Der Fokus liegt auf der Anerkennung der Realität der Einwanderung, der Erleichterung von Einbürgerung und der Zulassung doppelter Staatsbürgerschaften. Dieser letzte Aspekt ist wichtig, auch wenn die Staatsbürgerschaft nur eine Schicht von Zugehörigkeit betrifft und nicht als solche bewirkt, dass sich ihre neuen Inhaber zu Hause und akzeptiert fühlen. So schützt der legale Status der Staatsbürgerschaft nicht vor nachträglicher moralischer Ausbürgerung. Er sagt auch nichts aus über die Grenzen, innerhalb derer Bürger ein Recht auf kulturelle Differenz geltend machen dürfen.
Für demokratische Gesellschaften ist weiterhin kennzeichnend, dass sie Differenz nicht nur importieren, sondern auch aus sich heraus ethnisch und religiös eingefärbte Widerstandspotenziale mobilisieren und dadurch kulturelle Differenzen hervorbringen, sichtbar machen und vertiefen können. Dies zeigt schon die Herkunft des Begriffs des »kulturellen Pluralismus«.Dieser Begriff geht nämlich auf das Engagement jüdischer Studenten in den USA zurück, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Assimilationsmodell des melting pot verwarfen und zum Beispiel die Einführung jüdischer Studien an den amerikanischen Universitäten forderten, übrigens unter Berufung auf den deutschen »Verein für Cultur und Wissenschaft der Juden«, der seit dem frühen 19. Jahrhundert bestand (Greene 2011). Aber es gibt auch eindrucksvolle jüngere Beispiele. Ungefähr 22 Millionen Amerikaner praktizieren inzwischen verschiedene Yoga-Techniken, die teilweise auch Eingang in den Sportunterricht finden, was unlängst in Los Angeles zu Klagen über das Vordringen des »Hinduismus« an Schulen geführt hat (Perry 2012). Die Ausbreitung von Yoga, Feng Shui und diversen quasibuddhistischen Meditationspraktiken im Westen hat allerdings nichts oder kaum etwas zu tun mit der Einwanderung von Asiaten nach Amerika und Europa. Ähnliches gilt für die massenhafte
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