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Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus

Titel: Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Volker M. Heins
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Gesellschaften anders verhält. Aber warum? Meine eigene Antwort auf diese normative Frage kreist um vier Stichworte: Klugheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Utopie.
    1.  Klugheit . Der Zweck des Multikulturalismus ist die wohlverstandene »Integration« von Zuwanderern und Minderheiten. Integration lässt sich ablesen am Zugehörigkeitsgefühl dieser Gruppen zur Gesellschaft. Zugehörigkeitsgefühle spiegeln Akzeptanz und sind ein Indiz für soziale Teilhabechancen. Multikulturalisten haben verstanden, um James Tully zu zitieren, dass in kulturell heterogenen Gesellschaften ein Zugehörigkeitsgefühl, »a sense of belonging«, nur hergestellt werden kann, wenn alle »eine Form von Bestätigung oder Anerkennung [ acknowledgment or recognition ] im öffentlichen Leben und den Institutionen« erhalten (Tully 2008: I, 160). Auch Kymlicka (2012) spricht von »multikultureller Integration« als Weg und Ziel. Multikulturalismus ist erfolgreich, wenn sich nachweisen lässt, dass er zur Bildung des kollektiven Gefühls von Migranten und Minderheiten beiträgt, zur Gesellschaft und zur politischen Gemeinschaft wirklich dazuzugehören. In Deutschland bezeichnen nur 58 Prozent der Muslime das Zusammenleben mit der nichtmuslimischen Mehrheitsbevölkerung als »ungestört«, was ein ziemlich schwaches Adjektiv ist. Dagegen fühlen sich 84 Prozent der britischen Muslime in ihrer Gesellschaft »fair behandelt« (Sachverständigenrat 2013: 18; McGoldrick 2013: 52). Aus meiner Sicht ist dies ein Indikator für den Erfolg und den europäischen Vorbildcharakter des britischen Multikulturalismus.
    2.  Gerechtigkeit . Eine Politik zur Verteidigung der kulturellen, ethnischen und religiösen Pluralität unserer Gesellschaften ist notwendig, weil es nicht nur eine ungleiche und häufig ungerechte wirtschaftliche Verteilung von Gütern gibt, sondern auch Ungerechtigkeit im Verhältnis von kulturellen Gruppen zueinander. Diese zweite Ungerechtigkeit drückt sich aus in der Geringschätzung, Abwertung und Missachtung der einen durch die anderen – eine Missachtung, die sich irgendwann zu einem habitualisierten Muster wechselseitiger Fremdheit verfestigt. Jüngere Erkenntnisse zu wirtschaftlichen Aufsteigern unter türkeistammigen Migranten zeigen, dass die Missachteten auch und gerade dann, wenn sie erfolgreich und »integriert« sind, ein Ziel von Stigmatisierung bleiben (Sutterlüty 2010). In diesem Sinne kann man von einem Primat der Anerkennung über Verteilungsfragen sprechen: Der Weg diskriminierter Minderheiten zu stabiler wirtschaftlicher und sozialer Teilhabe wird durch eine Politik der Anerkennung geebnet, nicht umgekehrt.
    Kulturelle Ungerechtigkeit kann sich auf verschiedene Weise äußern. Der klassische Fall sind überzogene, immer weiter in die Höhe geschraubte kulturelle oder habituelle Anpassungserwartungen an vorgegebene Werte oder Verhaltensstandards, die der Staat an Minderheiten richtet, ohne ihnen gleichzeitig eine Aussicht auf reale Teilhabe zu eröffnen. Weniger bedeutend, aber ebenfalls real ist das umgekehrte Phänomen illegitimer Anerkennungsforderungen von Minderheiten selbst. 4 Die Diskussion ist unter anderemdeshalb kompliziert – so kompliziert, dass sie aus meiner Sicht ein weiteres Buch erfordert! –, weil eine Reihe von Annahmen ins Wanken geraten sind, die in der Vergangenheit zu Recht oder zu Unrecht mit dem Multikulturalismus in Verbindung gebracht wurden. So sind vor allem gruppenbezogene Kulturbegriffe in Misskredit geraten mit der Folge, dass nicht immer klar ist, wer oder was eigentlich vor wem geschützt werden soll: Muslime oder Juden vor der Mehrheitsgesellschaft? Musliminnen vor ihren Männern? Deutsche vor »deutschfeindlichen« Jugendlichen mit Migrationshintergrund? Fragen dieses Typs haben weitreichende Diskussionen über Legitimität und Grenzen des Multikulturalismus ausgelöst.
    3.  Demokratie . Es ist aufschlussreich, dass in der umfangreichen Forschung zur »Qualität« von demokratischen Systemen die Frage des Umgangs mit Einwanderern und Minderheiten keine Rolle spielt, solange nicht Verfassungsgrundsätze verletzt werden. Ein gutes Beispiel ist Stein Ringens What Democracy Is For (2007). Ringen möchte darin die vergleichende Demokratieforschung nicht mehr nur als Vergleich von Regierungssystemen verstanden wissen, sondern auch als einen Vergleich dessen, was diese Systeme für die Bürgerinnen und Bürger leisten und bedeuten. Verglichen werden die Regeln der Demokratie und des

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