Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
Wohlfahrtsstaats in unterschiedlichen Ländern sowie die Art und Weise, wie diese Regeln zum guten Leben der Einzelnen und ihrer Familien beitragen. Neben der »demokratischen Politik« soll die »demokratische Kultur«, neben dem »Regime« die »Person« gleichberechtigt Beachtung finden (ebd.: 6, 33). Relevante Indikatoren für die Qualität des Regierungssystems sind der Grad ihrer Konsolidierung, die fraglose Gewährleistung der Pressefreiheit, die Effektivität des Regierungshandelns und der Schutz demokratischer Verfahren vor der Infiltration durch wirtschaftliche Interessen. Indikatoren für die Qualität der Lebenssituation der Bürger in der Demokratie sind der Schutz vor dem Armutsrisiko, die Gewährleistung der Gesundheitsversorgung, das Vertrauen in das politische System sowie das Vertrauen in die Mitbürger (ebd.: 32–47).
Das Problem sehe ich darin, dass Ringen sich nicht wirklich für »Personen« interessiert, sondern nur für Bürger, und zwar für Bürger im Allgemeinen, nicht für ethnische oder religiöse Minderheiten im Besonderen, und schon gar nicht für diejenigen, die keine Bürger sind (Flüchtlinge, »Illegale« usw.) oder sich auf dem manchmal langen Weg zur Einbürgerung befinden. Wenn Demokratien, wie Ringen (ebd.: 32) richtig schreibt, »kind and gentle« sein sollen, dann sollte man konsequenterweise auch nach Indikatoren suchen, mit deren Hilfe sich die spezifisch multikulturelle Qualitätvon Demokratien messen ließe. Das ist alles andere als eine Nebensache. Die Qualität der Demokratie entscheidet sich nämlich an deren Peripherie, an der Durchlässigkeit von Grenzen und der Offenheit für minoritäre Stimmen. In Analogie zu dem Verfahren, das Ringen anwendet, müsste man folglich auch die Regeln analysieren, die für die Bereiche Asyl, Einwanderung, Einbürgerung und Integration gelten, und danach die Konsequenzen ermitteln, die sich aus der Anwendung dieser Regeln und aus dem Verhalten der Einheimischen für das Wohlergehen und das Zugehörigkeitsgefühl von Nichtbürgern, Neubürgern und Angehörigen von Minderheiten ergeben. 5 In Anlehnung an Ringen müssen wir fragen »What is multiculturalism for?« und die Antwort auf dem Feld der Erfahrungen suchen, die dazu beitragen, dass sich Migranten und deren Nachkommen sowie einheimische Minderheiten einem Gemeinwesen verbunden fühlen und sich darin entfalten können. Wenn man will, kann man dieses Ergebnis auch »Integration« nennen. Vorbilder einer solchen wohlverstandenen Integration wären allerdings nicht die assimilierten und trotzdem (oder gerade deswegen) verachteten Juden Europas vor dem Holocaust, sondern eher Figuren wie Esther oder Daniel aus den gleichnamigen Büchern der Hebräischen Bibel (oder des »Alten Testaments«).
4. Utopie . Im Zuge der Rekonstruktion der ursprünglichen politischen Theorie des Multikulturalismus werde ich zeigen, dass diese Theorie keineswegs die fraglose Zugehörigkeit von Einzelnen zu Gruppen und ganzen Kulturen unterstellt. Das Argument für eine Politik zum Schutz der kulturellen Vielfalt von Gruppen ist vielmehr, dass, wenn alles richtig gemacht wird, die individuelle Freiheit gleich mit geschützt wird. In einer Gesellschaft, in der alternative kulturelle Orientierungen und Lebensentwürfe zum Greifen nahe und oftmals buchstäblich in der Nachbarschaft zu finden sind, ist es weder wünschenswert noch möglich, die Einzelnen auf ihre primordiale Zugehörigkeit zu einer Herkunftsgruppe einzuschwören. Gleichwohl kann die Herkunftskultur beides sein: Schranke und Ressource. Will Kymlicka, einer der wichtigsten Vertreter des liberalen Multikulturalismus, sieht den Zusammenhang von Kultur und Freiheit darin, dass Individuen auf eine eigene »kulturelle Struktur« angewiesen seien, um für sich selbst sinnvolle Entscheidungen treffen zu können (Kymlicka 1995). Vielleicht kann man diese Struktur am besten mit der sogenannten Muttersprache vergleichen, die bei Kymlicka einen Teil von ihr bildet. An der Muttersprache wird deutlich, dass sie das Individuum nicht einschränkt oder auf seine Herkunft reduziert, sondern umgekehrt den Zugang zu anderen Sprachen und ihren Sprechernüberhaupt erst ermöglicht. Die Unterdrückung der Sprache der Anderen gehörte aus diesem Grund zu den Markenzeichen des Kolonialismus. Der philosophische Multikulturalismus macht das Gegenteil: Er zwingt die Individuen nicht in starre Kategorien von Gruppenzugehörigkeit, sondern leuchtet den kollektiven
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