Der Skandal der Vielfalt - Geschichte und Konzepte des Multikulturalismus
und die politische Theorie des Multikulturalismus in ihren Grundzügen zu rekonstruieren.
In Kapitel 1 biete ich anhand von literarischen und historischen Texten eine kleine Genealogie des Multikulturalismus. Elementare Modelle des Austausches zwischen kulturell Fremden, die in das Gedächtnis europäischer Gesellschaften eingegangen sind, finde ich in der Literatur der europäischen Aufklärung, der Exilliteratur des 20. Jahrhunderts sowie bei Marcel Proust,der ein ausgezeichneter Analytiker der Identitätspaniken war, die zur Zeit der Dreyfus-Affäre die Französische Republik erfassten. In der Hauptsache geht es mir um die Rekonstruktion des Bedeutungswandels von »Assimilation« sowie die teilweise schon antiken Einwände gegen diese Form des Identitätsmanagements, deren Paradoxien erst im modernen Nationalstaat deutlich zutage getreten sind. In diesem Zusammenhang werde ich weitere Themen streifen: Bismarcks Kulturkampf, bestimmte Erfahrungen des Kolonialismus sowie die Frage einer brauchbaren Typologie unterschiedlicher Formen der Inkorporierung von Neuankömmlingen und ethnischen Minderheiten.
Nachdem ich im Urgestein der Vorgeschichte des Multikulturalismus gegraben habe, erreiche ich in Kapitel 2 die ideellen Quellen dieser Denkströmung. Das Kapitel beantwortet die Frage nach der besonderen Rolle Kanadas in der Frühgeschichte des Multikulturalismus und diskutiert zentrale Theoriebausteine und Autoren, die im Kontext realer institutioneller Neuerungen und verfassungspolitischer Debatten zu sehen sind. Im Einzelnen entwickele ich Charles Taylors Begriffe von Authentizität, Politik und interkulturellem Dialog, James Tullys antiimperiale Auffassung einer öffentlichen Philosophie sowie Will Kymlickas dezidiert liberale Theorie multikultureller Demokratie. In einem nächsten Schritt erörtere ich die Beiträge einiger prominenter Kritiker des Multikulturalismus. So hat Jürgen Habermas frühzeitig die Befürchtung geäußert, dass die staatliche Bestandsgarantie für identitätsstarke kulturelle Gruppen selbst zu einer Norm erstarren könnte, die den einzelnen Angehörigen dieser Gruppen auch gegen deren Neigungen entgegengehalten wird und sie auf Traditionspflege verpflichtet. Interessant ist außerdem, dass sich Habermas in jüngerer Zeit auf Positionen von Taylor und Kymlicka zubewegt hat. Neben Habermas diskutiere ich Varianten der feministischen Kritik sowie die Frage danach, was die Rede von schützenswerten Kulturen und kulturellen Gruppen überhaupt bedeuten soll.
In Kapitel 3 bewege ich mich von den Quellen gleichsam flussabwärts in den Strom der Erfahrung, indem ich von den theoretischen zu gesellschaftlichen Kontroversen um die Implementierung oder Verhinderung multikultureller Handlungsprogramme und Maßnahmen übergehe. Das Ziel ist dabei nicht eine Policy-Analyse, sondern ein Beitrag zu einer »history in ideas«, das heißt zu der Frage, wie die Idee des Multikulturalismus in bestimmten Kontexten Gestalt angenommen und sich gewandelt hat. Ich werde so verfahren, dass ich erst das neuerliche Unbehagen am Multikulturalismus zu beschreiben versuche. Danach diskutiere ich einen bestimmten Typus desstaatlichen Umgangs mit diesem Unbehagen, der in verschiedenen Ländern die Gestalt von groß angelegten Untersuchungskommissionen und Institutionen wie etwa der Deutschen Islamkonferenz angenommen hat. Am Schluss dieses Kapitels diskutiere ich eine Reihe von exemplarischen gesellschaftlichen Kämpfen um Anerkennung, Deutungshoheit und Leitkultur, in denen sich jeweils bestimmte Minderheiten mehr oder weniger lautstark zu Wort gemeldet haben. Diese Kontroversen drehen sich um irritierende Kleidungsstücke, rituelle Körperverletzungen, blasphemische Kunst- oder Machwerke, die zu Gegenständen und Auslösern von Kulturkämpfen um das Verhältnis von Solidarität und Differenz geworden sind.
Kapitel 4 schließlich bietet einen thesenartigen Ausblick auf die Zukunft des Multikulturalismus und der »gemischten Multitude«, wie sie schon im Buch Exodus genannt wurde. Alle Flüsse gegenwärtiger Erfahrung münden in dieses Meer, das noch undeutlich vor uns liegt. Ich beginne mit Thesen zum zeitgeschichtlichen Kontext des Multikulturalismus, der etwas zu tun hat mit der Umwertung von »Kultur«, die nicht länger als Schranke von Modernisierung und Fortschritt, sondern als symbolische Ressource wahrgenommen wird. Danach diskutiere ich die Rolle von Juden, Muslimen und Homosexuellen als den paradigmatisch
Weitere Kostenlose Bücher