Der Skorpion von Ipet-Isut
Alter; es geziemte sich ganz einfach nicht mehr für sie, heimlich im Schilf auf Jagd zu gehen, mit den Fohlen Wettrennen zu veranstalten und dergleichen mehr, was ihr über die Jahre so eingefallen war. Tameri seufzte. Sie war immer mehr gewesen als eine einfache Bedienstete in diesem Haus: früher Amme und später Freundin für das mutterlose Mädchen. Ihr liebster Wunsch jetzt war, noch erleben zu dürfen, dass ihr Schützling heiratete und vielleicht noch eines ihrer Kinder auf den Knien schaukeln zu dürfen…
„Dein Vater hat es verboten…“ erwiderte die alte Frau ohne viel Hoffnung, das junge Mädchen umstimmen zu können.
„Dass ich allein in die Stadt gehe, ja! Aber wenn du mit kommst? Bitte, Tameri! Außerdem geht es ja gar nicht um einen Besuch in Waset… Das Fest soll am anderen Ufer sein; Vater hat mir nie untersagt mit dem Boot dort hinüber zu fahren. Sogar die Königin soll heute dabei sein! Ich würde sie so gern einmal sehen! Und den Hohepriester des Amun, von dem Kare immer behauptet, dass sein Blick die Menschen zu Stein erstarren lassen kann und -“
„Kare hat wieder seine Geschichtchen erzählt?! Das ist alles Unsinn, dummes Jungengeschwätz! Er sollte lieber den Stall ausmisten, da ist er recht nachlässig! Kümmere dich nicht um seine Fabeleien, Debora!“
Das hatte sie ihr natürlich schon ungezählte Male gesagt. Umsonst. Das junge Mädchen lauschte mit besonderer Vorliebe Kares phantastisch ausgeschmückten Geschichten. Und ja, die alte Amme musste zugeben, dass er gut erzählen konnte! Das war aber auch das Einzige, was der Bursche wahrscheinlich zustande brachte, dachte sie jetzt missmutig. Von arbeiten verstand er ihrer Meinung nach nicht sonderlich viel...
„Bitte, Tameri! Ich habe gewettet mit Kare, dass mir nichts passieren wird, wenn ich Mutters Amulett trage! Vater sagt doch auch immer, dass unsere Götter in Wahrheit viel mächtiger sind als die Kemets!“ Sie setzte einen flehenden Blick auf. Dieses Jahr musste sie ganz einfach die Prozession sehen! Am Ende schickte ihr Vater sie noch zurück in die Heimat zu einem Bräutigam – er hatte erst kürzlich wieder davon gesprochen – und sie würde niemals die Wunder Wasets zu Gesicht bekommen! Etwas, das sie glaubte nicht aushalten zu können.
„Wenn dir etwas geschieht…“
„Mir wird nichts passieren! Ich bin doch alt genug! Vorige Woche hat Vater erst gesagt, bald sei es Zeit, mir einen Bräutigam auszusuchen! Und außerdem ist Vater doch gar nicht da! Er ist bis morgen unterwegs mit den Pferden auf dem Markt von Abudo! Bitte, Tameri, bitte!“
Die alte Amme seufzte. Sie konnte dem Mädchen einfach nichts abschlagen…
Wenig später verließen die beiden den Hof. Eine drückende Mittagshitze lag über dem Land und die Mauern Wasets wirkten unwirklich in der flirrenden Luft. Umso klarer hob sich der Wasserlauf gegen die Umgebung ab. An den Ufern war bereits eine gewaltige Menschenmenge und viele große und kleine Boote versammelt. Die gelben Schilfbündel der festlich geschmückten beiden Barken, die die Königliche Gemahlin und den Hofstaat tragen würden, leuchteten in der Sonne. Dahinter lag noch ein drittes Schiff, in dessen Mitte eine mit Palmwedeln geschmückte Laube stand, die bald die Götterbarke selbst bergen sollte. Die Leute standen oder hockten in kleinen Gruppen beisammen, sangen und flochten Blumenkränze. Manche waren sicherlich schon die halbe Nacht hier, um einen guten Platz zu ergattern. Kinder weinten übermüdet. Ein paar Jugendliche nutzten die Zeit noch für ein Bad, während einer ihrer Kameraden nach im Schilf verborgenen Krokodilen Ausschau hielt.
Auf einmal kam Bewegung in die Menge und Jubelrufe wurden laut. Die Prozession mit der Amunbarke näherte sich.
„Dort, kannst du sie sehen, Debora?“
Das Mädchen folgte dem ausgestreckten Arm ihrer alten Amme und erkannte ein mit zahllosen Blumengebinden geschmücktes Boot, dessen Steven in goldenen Widderköpfen endeten. Die Tragstangen ruhten auf den Schultern von einem Dutzend weiß gekleideter Priester, und hauchdünner Stoff bedeckte den Schrein des Gottes in der Mitte. Neben der Barke, auf Höhe des heiligen Schreines, ging ein Würdenträger mit einem Leopardenfell über den Schultern. Das musste er sein, der Herr von Ipet-Isut!
Debora reckte sich auf die Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Stimmte es, was Kare erzählt hatte? Der Blick des Hohenpriesters war geradeaus gerichtet, so als nähme er die jubelnden
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