Der Sohn meines Feindes
konnte.
„Lass ihn, Luca. Er ist und bleibt ein alter Brummbär“, lachte Erwin leise und sah ihn aufmunternd an. Luca musste ihm insgeheim Recht geben, Tomek war schon vor zehn Jahren mürrisch und verschlossen gewesen.
***
Der Alltag gestaltete sich gar nicht so schwierig, wie Luca zuerst befürchtet hatte. Meist war er mit Erwin allein, der im Gegensatz zu seinem Stiefbruder bereit war, mit ihm zu reden und auf seine Fragen zu antworten.
Tomek arbeitete den Tag über als Tätowierer in Erwins Tattoo-Studio, das im Erdgeschoss lag. Zwischendurch kam er immer mal wieder nach oben, um nach dem Kranken zu sehen, liess jedoch Luca einfach links liegen. Überhaupt sprach er nur das Nötigste mit ihm.
Um sich nützlich zu machen hatte Luca bald den Küchendienst übernommen, da Kochen für ihn kein Fremdwort war. Er hatte das bereits die letzten Jahre tun müssen, weil er ansonsten nie zu einer warmen Mahlzeit gekommen wäre. Erwin war ihm dankbar dafür, da Tomek anscheinend kein Händchen fürs Kochen hatte, und zeigte dies auch mit zunehmendem Appetit, was Tomek ebenfalls froh zu stimmen schien.
An einem Abend, als Luca und Tomek den Abwasch machten, fasste Luca allen Mut zusammen und fragte: „Ist Erwin dein Freund?“
„Er ist ein Freund, nicht mein Freund“, antwortete Tomek kurz angebunden, sah ihn jedoch nicht an.
„Oh. Ich dachte, du lebst mit einer Freundin zusammen.“
„Tu ich offensichtlich nicht. Ich steh nicht auf Frauen“, antwortete Tomek genervt.
„Dann bist du also schwul?“
„Hast du ein Problem damit?“ Tomeks Stimme hatte an Gereiztheit zugenommen.
„N…nein, ich wollte es nur wissen.“ Luca senkte verlegen den Kopf.
Ein unangenehmes Schweigen breitete sich aus, bis Luca weiterfragte: „Was hat Erwin eigentlich?“
„Seine Niere gibt den Geist auf. Ist nur noch eine Frage der Zeit. Er hat bereits vor Jahren eine Spenderniere erhalten, die jetzt aber nicht mehr richtig arbeitet.“ Tomek hatte leise gesprochen. „Er bekommt keine Neue mehr. Er hat sich aus dem Spital entlassen, um hier zu sterben.“ Luca sah, wie Tomek hart schluckte. Man konnte erkennen, dass der bevorstehende Tod seines Freundes ihm sehr nahe ging. Ohne zu Überlegen ging er zu ihm und legte eine Hand auf dessen Arm. Einen Moment sah Tomek nur auf Lucas Finger hinunter, um sich dann mit einem Ruck von ihnen zu befreien.
„Lass das. Fass mich nicht an. Ich komme schon damit klar. Ich brauche kein Mitleid, verstanden?“, knurrte er Luca an, der erschrocken einen Schritt zurückwich.
„Was ist daran falsch, wenn ich dir mein Mitgefühl zeigen will?“, fragte Luca.
„Von dir will ich gar nichts, ist das klar?“
„Was habe ich dir denn getan, dass du mich so ablehnst? Ich meine, wir haben uns doch über zehn Jahre nicht gesehen, oder?“
Tomek kam nun bedrohlich auf Luca zu. Er war einen halben Kopf grösser als Luca und hatte bedeutend mehr Muskelmasse. Er packte ihn an den Oberarmen und drückte ihn an die Küchenkombination. „Du, Luca, bist der Sohn deines Vaters und das ist mehr als genug.“
„Spinnst du? Du machst mich für das Verhalten meines Vaters verantwortlich? Ich war damals, als du abgehauen bist, noch nicht einmal acht Jahre. Tomek, nicht ich habe dich geschlagen, sondern mein Vater!“, antwortete Luca fassungslos.
„Dein Vater hat mir viel mehr angetan, als die unzähligen Schläge, die er mir verabreicht hat.“ Mit diesen Worten stiess Tomek ihn grob zurück und verliess die Küche.
Luca sah ihm nach und fragte sich, was er damit gemeint haben könnte. Er konnte sich an nichts erinnern, dass über die zahllosen Schläge hinausgegangen war, musste sich jedoch eingestehen, dass er selbst erleichtert gewesen war, dass die Wut seines Vaters nicht ihn sondern Tomek traf. Diese Erkenntnis liess ihn beschämt zu Boden blicken. War es das gewesen, was sein Stiefbruder meinte? Er würde Tomek sich jetzt erst einmal beruhigen lassen und ihn zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal darauf ansprechen. Er musste sich einfach Klarheit verschaffen, denn er hatte Tomek damals sehr gern gehabt.
Als sein Vater Luca vor elf Jahren mitteilte, dass er sich vermählt hatte und er somit eine Mutter und einen Bruder bekam, war er mehr als froh darüber gewesen. Bis dahin lebte er schon lange mit seinem Vater allein, weil seine leibliche Mutter sich abgesetzt hatte, als Luca gerade mal zwei Jahre alt gewesen war. Er hatte früh gelernt, seinem Vater aus dem Weg zu gehen, vor allem wenn
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