Der Sommer deines Todes
legt es auf den Tisch, aber bringt es nicht über sich, das Gerät loszulassen. Freunde, darunter auch andere alleinerziehende Mütter, haben sie schon oft darauf hingewiesen, dass sie klammert. Doch wer kann schon nachvollziehen, was es bedeutet, in dieser Stadt als Weiße alleine einen dunkelhäutigen Teenagersohn aufzuziehen? Die Erfahrung hat Mary gelehrt, dass ein Junge mit einem weißen Elternteil – selbst im New York des einundzwanzigsten Jahrhunderts – immer noch als halbschwarz angesehen wird. Von dem Moment an, wo Fremont eine bestimmte Körpergröße erreichte, seine Stimmlage tiefer wurde und sich auf seiner Oberlippe leichter Flaum bildete, begannen die Menschen, einen großen Bogen um ihn zu machen. Zum ersten Mal fiel ihr das auf, als er irgendwann einmal vor ihr herlief. Seit jenem Tag achtet sie darauf, gelegentlich langsamer zu gehen, um ihre Theorie zu überprüfen. Und sie wird regelmäßig bestätigt: Dieser charmante Junge, ihr über alles geliebter Sohn, gehört auch zum Stamm junger schwarzafrikanischer Männer, die von der Pubertät an als Bedrohung empfunden werden. Und so kommt es, dass sie sich jedes Mal Sorgen macht, wenn er – wie meistens – allein unterwegs ist.
Mary versucht noch mal, ihren Sohn zu erreichen, der wieder nicht ans Handy geht.
Sie schließt die Augen, atmet tief ein und ganz langsam aus. «Oooommmmmmmm.»
Da Andre im Zimmer nebenan ihr Tun mit lautem Gelächter quittiert, schnappt sie sich Karins weichen Stressball und wirft ihn quer durchs Zimmer. Er landet zwischen dem Konzertplakat von Adele und dem Dartboard, woraufhin einer der Pfeile mit lautem Knall auf den Boden fällt.
Im Nachbarzimmer knarzt ein Stuhl, dann ertönen im Flur Schritte, und schon steckt Andre den Kopf durch die offen stehende Tür. Wie immer ist sein Walrossschnauzer, der sein Lächeln unterstreicht, perfekt gewachst. «Mittagessen?»
«Gib mir eine halbe Stunde. Ich möchte diese Recherche für Mac noch fertig machen.»
«Du findest doch nie ein Ende», moniert Andre, der ihre Arbeitsweise kennt und weiß, dass sie obsessiv recherchiert. Sie gehört zu jenen Menschen, denen das Internet, allein durch seine Existenz, das Leben erleichtert und erschwert.
«Halbe Stunde, versprochen.»
Bislang hat Mary schon einiges herausgefunden: Godfrey Millerhausen, wohnhaft in Greenwich, Connecticut, und auf der Park Avenue in New York, ist der Erbe von Hauser International. Das Unternehmen nahm vor hundert Jahren mit einem Lebensmittelgeschäft in Ohio seinen Anfang und wuchs mit der Zeit zu einer landesweiten Supermarkt- und Spirituosenladenkette namens Hauser heran. 1925 wurde die Unternehmenszentrale von Akron nach Manhattan verlegt. Hauser überstand (laut Wikipedia) den Börsencrash und die große Depression unbeschadet, weil die Unternehmensführung sich damals entschied, Schnaps von Toronto nach Buffalo zu schmuggeln und die illegale Fracht dann mit dem Lkw direkt ins durstige New York zu schaffen. Nach dem Ende der Prohibition im Jahre 1933 wurde Hausers Spirituosengeschäft noch größer und finanziell erfolgreicher, da die Firma inzwischen den hiesigen Markt kontrollierte. Der einzige Unterschied für Hauser bestand darin, dass die Mitarbeiter sich nun keine Sorgen mehr machen mussten, am Ende eines ganz normalen Arbeitstages verhaftet zu werden. In den siebziger Jahren wurden die beiden Geschäftszweige getrennt. Godfreys Vater übernahm den Lebensmittelbereich und überließ die Spirituosenkette seinem Bruder Dean, der sie später seinem Sohn Preston vermachte. Preston Millerhausen steht heute laut
Forbes
auf Platz siebenundzwanzig der Liste der reichsten Menschen der Welt. Godfrey Millerhausen findet man auf Platz zweiundneunzig. Oha, denkt Mary. Wie nimmt es ein Typ mit einem Vermögen von nur drei Milliarden Dollar auf, dass sein Cousin fast zwölf Milliarden besitzt? Wenn da mal an den Feiertagen keine Spannungen aufkommen …
Solche Summen überfordern Marys Vorstellungskraft schlichtweg. Sie selbst wohnt in dem sich langsam gentrifizierenden Viertel Clinton Hill in Brooklyn und kann sich schon glücklich schätzen, eine mietpreisgebundene Wohnung gefunden zu haben. Während sie online die Ausgaben von
Forbes
,
Business Week
und
Moneyedup
liest, kann sie die Augen nicht vor der Tatsache verschließen, dass sie im Vergleich zu diesen Leuten zweifellos arm ist. Mrs. Millerhausen hat mit keiner Wimper gezuckt, als Mac sie darüber informierte, dass der Vorschuss zehntausend
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