Der Sommer der toten Puppen
ihm gegeben hatte, über den Jungen, der aus dem Fenster gestürzt war. Fotos von Marc Castells: ein paar vom letzten Sommer, als er noch lockiges Haar trug und auf Inlineskates über ebendiese Promenade fuhr; dann welche vom Frühjahr, mit geschorenem Kopf. Und schließlich Fotos aus der Gerichtsmedizin, von einem Körper, der noch im Tod unter Spannung zu stehen schien. Es war ein plötzlicher, aber alles andere als sanfter Tod gewesen, so der Bericht. Er war seitlich gefallen, aus mindestens elf Metern Höhe, und mit dem Rücken auf die Steinplatten geschlagen. Ein dummer Unfall. Alkohol und ein Moment der Unachtsamkeit, und alles ist vorbei.
Laut Bericht hatte Marc mit zwei anderen Jugendlichen, einem Jungen und einem Mädchen, Freunden des Opfers seit der Kindheit, in der Wohnung der Castells eine kleine Party gefeiert, im buchstäblich höchsten Viertel von Barcelona, nachdem die Hausherren, Enric Castells und seine zweite Frau, mit der Adoptivtochter in ihr Landhaus in Collbató gefahren waren, um dort die Johannisnacht mit Bekannten zu feiern.
Gegen halb drei morgens hatte der Junge, Aleix Rovira, der in der Nähe wohnte, beschlossen, nachhause zu gehen; das Mädchen, eine gewisse Gina Martí, blieb über Nacht. Wie es im Bericht hieß, hatte sie hysterisch erklärt, sie habe sich, »kurz nachdem Aleix gegangen war«, in Marcs Bett gelegt. Das Mädchen erinnerte sich an nicht viel, was nicht verwunderte, denn sie gab an, am meisten getrunken zu haben. Laut Aussage hatte sie sich mit Marc gestritten, als Aleix gegangenwar, sich beleidigt in sein Bett gelegt und darauf gewartet, dass er zu ihr kam. Mehr wusste sie nicht: Kurz darauf müsse sie eingeschlafen sein, und geweckt worden sei sie von den Schreien der Putzfrau, die gegen acht Uhr morgens den leblosen Körper von Marc auf dem Boden des Hofes fand. Angenommen wurde, dass der Junge sich, wie gewohnt, ins offene Fenster der Dachkammer gesetzt hatte, um eine Zigarette zu rauchen. Blöde Gewohnheit. Fest stand jedenfalls, dass er zwischen drei und vier Uhr nachts von dort gestürzt oder gesprungen war, während seine Freundin in dem Zimmer einen Stock tiefer ihren Rausch ausschlief und nichts mitbekam. Wie Savall gesagt hatte, nichts, wo man hätte ansetzen können. Nur ein Detail fiel auf: Eine der Scheiben der Hintertür war kaputt. Doch was an jedem anderen Tag ein Indiz hätte sein können, schrieb man mangels anderer Beweismittel den typischen Folgen der Johannisnacht zu, wenn die Jugendlichen Böller werfen und die Stadt in ein einziges Schlachtfeld verwandeln.
Die Promenade war immer leerer geworden, je weiter Héctor sich von den beliebteren Stränden entfernte. Er fühlte sich müde, also drehte er um und machte sich auf den Rückweg. Es war schon nach halb neun.
Als er nachhause kam, war er außer Atem und völlig verschwitzt. Jemand schien ihm ein Messer in die Wade zu treiben, so dass er die letzten Meter hinkte, auf dieses alte Gebäude an der Calle Pujades zu, dessen Fassade nach einer baldigen Sanierung schrie. Keuchend lehnte er sich an die Tür und zog die Schlüssel aus der Tasche seiner Jogginghose.
Er hörte, wie jemand nach ihm rief, und dann sah er sie. Mit ernster Miene, den Autoschlüssel in der Hand, kam sie auf ihn zu. Héctor setzte unwillkürlich ein Lächeln auf, aber der Schmerz verzog es zu einer Grimasse.
»Ich hatte mir schon gedacht, dass du joggen bist.«
Er schaute sie fragend an.
»Du hast den Leuten von der Gepäckermittlung meine Nummer gegeben. Dein Koffer ist da. Sie haben versucht, dich ausfindig zu machen, aber du bist nicht ans Handy gegangen, also haben sie meins angerufen.«
»Ach so, tut mir leid.« Er keuchte immer noch. »Sie hatten mich um eine weitere Nummer gebeten … Mein Akku ist leer.«
»Das hatte ich vermutet. Dann geh dich duschen und zieh dich um. Ich fahr dich hin.«
Er war einverstanden, und zum ersten Mal lächelte Ruth.
»Ich warte hier«, sagte sie, bevor er sie hinaufbitten konnte.
Kurz darauf kam er mit einer Plastiktüte zurück, darin ein Buch über Grafikdesign, um das Ruth ihn vor seiner Reise nach Argentinien gebeten hatte, und eine Schachtel Alfajores. Sie bedankte sich mit einem Lächeln und einem »Das sieht dir ähnlich, mir mitten im Sommer diese Kalorienbomben mitzubringen, wo du genau weißt, dass ich nicht widerstehen kann«. Es war erstaunlich wenig Verkehr, und in einer halben Stunde waren sie am Flughafen. Sie sprachen wenig auf der Fahrt, es ging fast
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