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Der Sommer der toten Puppen

Der Sommer der toten Puppen

Titel: Der Sommer der toten Puppen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Antonio Hill
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wollte es sich nicht erklären, aber in dem Moment fühlte sie etwas für ihn, was der Zärtlichkeit sehr nahe kam.

5
    Schon vor einer Weile hätte er ins Bett gehen sollen, aber die Jahre raubten ihm unerbittlich Stunde um Stunde Schlaf, und Lesen war das Einzige, was ihm die langen Abende zu ertragen half. An diesem Abend jedoch, und obwohl er ein Buch in der Hand hatte, das ihm gefiel, konnte Pater Fèlix Castells sich nicht konzentrieren. In seinem Lieblingssessel, in der stillen Wohnung am Paseo Sant Joan, die von Kindesbeinen an sein Zuhause gewesen war, schienen seine seit Jahren schon müden Augen nicht in der Lage, den Zeilen eines Romans von Iris Murdoch zu folgen. Schließlich hatte er genug, stand auf und ging zur Hausbar. Er schenkte sich ein Glas Cognac ein, und nachdem er einen ordentlichen Schluck getrunken hatte, kehrte er zum Sessel zurück. Das einzige Licht im Wohnzimmer kam von der Stehlampe, und als er das weiße Cover des Buchs betrachtete, ergriff ihn ein Schauder. Iris. Immer Iris ... Er ließ die Augenlider sinken und sah die Mail auf Joanas Computer, die er gelesen hatte, während sie sich anzog. Er hatte es kaum glauben können, und er musste sich zusammenreißen, um sie nicht zu löschen. Iris konnte keine E-Mails schreiben. Iris war tot.
    Er war es gewesen, der in das Becken sprang, der sie umdrehte und das blau verfärbte Gesichtchen sah, der vergeblich versuchte, ihr durch die erkalteten Lippen etwas von seinem Atem zu geben, Lippen, die sich für immer geschlossen hatten. Als er sich umschaute, mit dem Mädchen in den Armen, sah er in die entsetzten Augen seines Neffen. Er wünschte sich, dass jemand ihn dort wegnahm, ihn von diesem schrecklichen Anblick erlöste, aber Marc schien wie angewurzelt dazustehen. Erst jetzt merkte er, dass etwas ihn streifte, und er sah, dass in dem Wasser Puppen trieben.
    Er griff nach dem Cognacglas und nahm einen weiteren Schluck, aber nichts konnte diese Kälte verscheuchen, die keine Jahreszeiten kannte. Der kleine, nasse Körper von Iris, ihre bläulichen Lippen. Die Puppen um sie herum, wie ein makabrer Kranz. Bilder, die er schon vergessen glaubte und die ihn jetzt, seit der Johannisnacht, seit jener anderen Tragödie, heftiger bestürmten denn je. Nichts konnte er tun, um sie zu bekämpfen. Er versuchte sich an angenehme Bilder zu erinnern, glückliche Momente: an den lebenden Marc, den munteren, wenn auch mit diesem immer traurigen Blick. Er hatte getan, was in seiner Macht stand, aber auf dem Grund von Marcs Seele war die Melancholie, für ihn unzugänglich, und bei der kleinsten Stichelei von Enric trat sie hervor. Wie oft hatte er seinem Bruder gesagt, dass Ironie nicht das richtige Mittel war, um ein Kind zu erziehen! Aber es half alles nichts, Enric schien nicht zu begreifen, dass Spott schmerzhafter sein konnte als eine Ohrfeige. In diesem Haus fehlte eine Frau. Eine Mutter. Wenn Joana bei ihnen geblieben wäre, wäre alles anders gekommen. Und Glòria kam zu spät: Enrics Bitterkeit hatte sie mildern können, aber bei Marc saß die Verletzung zu tief. Die spätere Adoption von Natàlia trug dazu bei, den neuen Familienkreis zu schließen, doch den schüchternen, einzelgängerischen und wenig herzlichen Jungen schloss sie aus. Seine Schwägerin hatte alles versucht, wenn auch vielleicht mehr getrieben vom Pflichtgefühl als aus echter Zuneigung für Marc.
    Es war ungerecht, Glòria zu kritisieren. Diese Jahre waren auch für sie nicht einfach gewesen. Als klar war, dass sie soleicht keine eigenen Kinder bekommen konnte, hatte für sie ein Leidensweg durch die Praxen und Krankenhäuser begonnen, der in einem langen Adoptionsprozess endete. Das alles war eine zähe Angelegenheit, und auch wenn er es geschafft hatte, die Formalitäten ein wenig zu beschleunigen, war für Glòria das Warten endlos gewesen. Als sie mit dem Kind nachhause kam, schien sie nur noch glücklich. In Fèlix’ Augen war sie eine perfekte Mutter, und wenn er sie mit ihrer Tochter sah, war er mit der Welt im Reinen. Es war ein nur vorübergehendes Gefühl, aber so tröstlich, dass er zu ihr ging, wann immer er konnte. Das Erlebte begleitete ihn dann stundenlang, und dank solcher Momente konnte er der Welt ihre Sünden vergeben. Auch sich selbst ... Aber das war vorbei: Nach Marcs Tod verflog alles, als könnte nichts mehr ihn trösten. Das Bild seines Neffen, leblos auf den Platten im Hof, stand ihm jedes Mal vor Augen, wenn er versuchte, zur Ruhe zu kommen. Einmal sah

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