Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
morsche Holz.
Tweed suchte die Quellen der Stimmen. Waren das nur Echos? Der Nebel bewegte sich in einer leichten Brise. Der Boden zitterte.
„ Erwaaacht meine Kinder.“
Das Zittern wurde stärker. Aus den Kiefern rieselten Nadeln. Ein Zapfen traf Tweeds Kopf.
„ Erwaaacht.“
Unter dem Nebel brach der Boden auf. Erst schmal zog sich der Riss schnell lang und breit durch die frostige Erde. Ein dumpfes Klopfen setzte ein. Es schien tief aus dem Erdreich zu kommen.
Bamm, Bamm, Bamm!
Als schlüge jemand mit einem schweren Hammer zu.
Bamm, Bamm, Bamm!
Drei Schläge. Dann Stille. Und wieder drei Schläge. Tweed sah, dass wie bei einem Maulwurfshügel feuchtes Erdreich an die Oberfläche quoll.
Bamm, Bamm, Bamm!
Da unten war jemand! Tweed schluckte. Der Hügel wuchs.
„ Erwaaacht.“
Bamm, Bamm, Bamm!
Der Hügel vibrierte. Ein Grollen erfüllte die Luft. Es wurde lauter, schwoll an. Der Boden bebte.
Bamm, Bamm, Bamm!
„ Jetzt, jetzt, jeeetzt!“
Starker Wind kam auf. Er bog die Bäume, verwirbelte den Schnee. Die Böen peitschten Tweed, trieben ihn vor sich her. Dann rollte ein Donner durch den Wald, wie es keinen zuvor gegeben hatte. Und mit einem ohrenbetäubenden Knall zerbarst der Hügel. Die Wucht der Explosion warf Tweed in die Büsche. Die Eiche ließ ein donnerndes Lachen erschallen.
„ Jaaa! Es ist so weit!“
Und dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, endete es. Tweed rappelte sich auf. Gespannt hielt er den Atem an. Nur ein dampfender Krater war zurückgeblieben. Die Eiche schien sehr zufrieden damit.
„ Es ist fast geschafft. Und nun – steh auf!“
Der Wald schwieg voller Ehrfurcht. In der Tiefe der Grube war eine Bewegung zu erahnen. Nur ein Schatten in der Finsternis. Und dann streckte sich eine schwarze Pfote, dunkler als das Dunkel selbst, durch den wallenden Nebel hinauf in die Nacht. Und ein Arm, dünn und lang, und mit dem Schwärzesten aller Felle besetzt.
„ Steh auf, mein Kind. Es ist Zeit.“
„ Meister?“, knarzte die Stimme aus dem Inneren des Kraters. „Na endlich. Mir ist saukalt!“
Kapitel 1
Rolo hatte sich an jenem Morgen schon zweimal übergeben. Frau Gottlieb, seine Lehrerin für Mathematik, hatte es wiederholt abgelehnt, ihm in den Waschraum für Jungs zu folgen, um sich die Beweisstücke anzuschauen. Sie ignorierte die Unruhe im Klassenraum und zog unbarmherzig ihren Unterricht durch. Nur die Streber in den ersten Reihen folgten ihren Ausführungen über natürliche Zahlen, als ob nichts Besonderes wäre. Dabei war heute nicht weniger als der beste Tag des Jahres. Der letzte Schultag vor den Sommerferien.
Patze, Rolos Freund und Tischnachbar, versuchte ihn hartnäckig davon zu überzeugen, dass es saukomisch wäre, wenn er Spuckkugeln auf die erste Reihe abfeuern würde. Als Rolo darauf nicht ansprang, was ungewöhnlich war, blickte Patze ihn mit einer Mischung aus Enttäuschung und Mitleid an.
„ Alter, du siehst echt mies aus. Geh nach Hause, bevor es hier ein Unglück gibt.“
Rolo strich sich das schwarze Haar aus der Stirn. Er schwitzte. Diese plötzliche Übelkeit hatte ihn in den letzten Wochen mehrmals heimgesucht. Und immer in unpassenden Momenten. Im Hallenbad konnte er sich diesen Sommer nicht mehr sehen lassen. Wenn das so weiter ging, musste er seinem Vater davon erzählen. Er schaute auf die große Uhr über der Tafel. Erst fünf vor neun. Es war wie verhext. Jede neue Minute verging langsamer als die vorherige. Der Minutenzeiger schien sich auf seinen Runden an den Ziffern fest zu klammern. Rolo konzentrierte sich darauf, ihn mit der Kraft seiner Gedanken zu beschleunigen. Er wusste, dass er das nicht konnte. Er war ja kein Spinner. Aber der Versuch allein war spannender als Mathe. Patze schubste ihn an.
„ Alter, du guckst so verkniffen. Geh lieber zum Klo.“
Tina, die hinter ihnen saß, stopfte Rolo einen Zettel in die Kapuze seines Pullis. Er fischte ihn umständlich raus und faltete ihn auseinander. Es war eine Zeichnung von Rolo. Sie zeigte ihn mit dem Kopf in der Toilette. Darunter stand
Rolo Kotzgut
. Patze zog den Zettel zu sich rüber, zerknüllte ihn und warf ihn Tina treffsicher vor die Stirn. Rolo grinste. Nicht, dass er sich nicht selbst wehren konnte. Aber Patze war schon seit dem Kindergarten sein selbsternannter Leibwächter. Er riskierte einen vorsichtigen Blick zur Uhr. Wenn man zu oft hinsah, verging die Zeit noch langsamer. Zu seiner Überraschung stand der Zeiger schon auf fünf nach. Auch die
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