Sag, dass du eine von ihnen bist
Ein Weihnachtsessen
Seit dem zwölften Geburtstag von Maisha, meiner ältesten Schwester, wusste keiner von uns mehr, wie wir mit ihr fertig werden sollten. Sie konnte unseren Eltern nicht verzeihen, dass wir zu arm waren, um sie zur Schule zu schicken. Sie benahm sich wie eine verwildernde Katze, kam immer seltener heim und blieb gerade lange genug, um die Kleider zu wechseln oder mir Geld zuzustecken, das ich meinen Eltern geben sollte. Waren die zu Hause, ging Maisha ihnen aus dem Weg, als erinnerte ihre Anwesenheit sie an zu viele Dinge im Leben, für die man Geld brauchte. Baba fauchte sie manchmal an, mit Mama dagegen redete sie kein Wort, obwohl die sich jede Mühe gab, sie zu provozieren. » Malaya! Hure! Noch nicht mal Brüste hast du!«, stichelte sie dann, aber Maisha ignorierte sie einfach.
Mit Naema, unserer zehnjährigen Schwester, redete Maisha häufiger als mit irgendwem sonst, meistens darüber, was man als Straßenmädchen tun oder besser lassen sollte. Sie ließ Naema ihre Highheels anprobieren, zeigte ihr, wie man sich aufbrezelte, wie man Zahnpasta und Bürste benutzte. Sie schärfte Naema ein, jedem Mann wegzulaufen, der sie schlug, egal, wie viel Geld er ihr bot, und sie drohte, Naema wie Mama zu behandeln, sollte sie später zu viele Kinder bekommen. Lieber verhungern als ohne Kondom mit einem Mann mitgehen.
Aber während sie arbeitete, nahm sie keine Notiz von Naema, vielleicht, weil Naema sie an zu Hause erinnerte oder weil Naema nicht sehen sollte, dass ihre große Schwester gar nicht so cool und schick war, wie sie gern tat. Mich ertrug sie drau
ßen geduldiger als drinnen. Ich konnte sie auf der Straße immer anquatschen, ganz egal, was für Lumpen ich trug. Ein achtjähriger Junge war ihr nicht im Weg, wenn sie auf Kundschaft wartete. Und wir wussten, wie wir uns zu benehmen hatten, damit es so aussah, als würden wir uns nicht kennen – bloß ein Straßenjunge und eine Prostituierte, die einen Schwatz hielten.
Dabei konnte unsere machokosh -Familie von Glück reden. Anders als die meisten Straßenfamilien wohnten wir noch zusammen – zumindest bis zu jener Weihnacht.
Die Sonne war an Heiligabend bereits untergegangen. Unwetter hatten die Jahreszeiten verwirbelt und Nairobi überschwemmt; feiner Dezemberregen tröpfelte monoton auf unsere Dachplane. Ich hockte auf dem Betonboden unseres Verschlags, der sich am Ende der Gasse an die Rückseite eines alten Ziegelsteinbaus anlehnte, einem Laden. Hin und wieder fuhren Windböen in die braunen Plastikwände. Der Boden war mit Kissen gepolstert, die ich auf einer Müllkippe in der Biashara Street ergattert hatte. Abends rollten wir den Rand der Plane ein, um im Schein der Ladennotleuchte besser sehen zu können. Ein Brett, das uns als Tür diente, lag an der Ziegelmauer.
Heftiger Donner weckte Mama. Schwerfällig richtete sie sich auf und gab Maishas Koffer frei, den sie im Schlaf umklammert hatte. Er war marineblau, ein Koffer mit Rollen und Messingbeschlägen, der viel Platz wegnahm. In panischer Angst tastete sie von Wand zu Wand und ließ die Hände über Baba und meine zwei Jahre alten Zwillingsgeschwister wandern, meinen Bruder Otieno und meine Schwester Atieno; die drei schliefen wie Welpen ineinander verknäult. Mama suchte nach Baby. Auf dem weißen T-Shirt, das man ihr vor drei Monaten zu Babys Geburt geschenkt hatte, waren ein paar Milchflecken zu sehen. Dann fiel ihr offenbar wieder ein, dass der Junge ja bei Maisha und Naema war. Sie beruhigte sich, reckte sich,
gähnte und stieß sich an den Korksparren. Draußen fiel einer der Steine herunter, die unsere Dachplane beschwerten.
Jetzt langte Mama mit den Händen unter ihre shuka und zurrte die Riemen um ihre Hüfte fest; Schlaf und Alkohol hatten die Geldbörse verrutschen lassen. Dann durchwühlte sie unseren Familienkarton, fischte Kleider heraus, Schuhe und meine neue Schuluniform, eingewickelt in nutzlose Papiere, die Baba irgendwelchen Leuten aus den Taschen gezogen hatte. Mama wühlte weiter und häufte den Inhalt auf Baba und die Zwillinge. Endlich förderte sie die Dose New Suntan zutage , Schuhkleber, ein Weihnachtsgeschenk von den Kindern einer benachbarten machokosh .
Beim Anblick des Klebers lächelte Mama, blinzelte mir zu und schob die Zunge in ihre Zahnlücke. Gekonnt ließ sie den Deckel aufschnappen, und die Gerüche einer Schuhmacherwerkstatt füllten unseren Verschlag. Ich sah zu, wie sie das kabire in meine »Nuckelflasche« aus Plastik goss, sah,
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