Der Sommer der Vergessenen: Band 1 von 2 (German Edition)
Zuerst dachte ich, es wäre Irrsinn. Vielleicht war es auch das. Aber da war noch mehr. Mir war, als würde er mich erkennen. Nicht als Mensch oder als Bedrohung. Als Kilian. Als wäre ich jemand, den er von früher kannte. Jemand, den er lange nicht gesehen hatte. Mir war seltsam zumute. Ich näherte mich ihm vorsichtig. Und als wir uns Auge in Auge gegenüberstanden, war es, als würde er mir direkt ins Herz blicken.”
„ So ein Unsinn”, höhnte Dorn.
„ Lass ihn reden!”, befahl Adalar.
„ Ich muss zugeben, der Alte machte mir Angst. Er glotzte nur. Und dann entblößte er seine schwarzen Zahnstumpen und sprach zu mir. „Kilian“, sagte er, „Kilian, nimm dich in acht.“ Das waren seine Worte. Dann lief er davon und war rasch verschwunden. Ich war zu verdattert, um ihm zu folgen. So war das.”
„ Willst du dir einen Scherz mit uns erlauben, du Narr? Pass bloß auf!”, drohte Darragh, der Neolinga.
„ Ich sage die Wahrheit! Ich schwöre, dass es so war!“
Ein Raunen ging durch die Reihen.
„ Ich glaube dir”, sagte Kinsella. „Wenn ich auch nur aus alten Berichten von Zauberern weiß, die Tiergestalt annehmen konnten, so zweifle ich nicht, dass es sie gab. Aber gibt?“
Blair, der Neolinga, trat vor. „Mal angenommen, es gibt wirklich Zauberer, die das vermögen. Wie soll das möglich sein? Und warum sollte er Kilians Namen kennen? Und ihn vor irgendwas warnen?”
„ Jeder im Tal kennt die Namen der Neolinga. Warum nicht auch ein aufmerksamer Fuchs? Herrje, was red’ ich denn da?”, wunderte sich Joshua, der Neolinga.
„ Wir haben keinen Grund, an Kilians Worten zu zweifeln”, beschloss Hallimasch.
„ Aber an seinem Verstand”, raunte Dorn.
Hallimasch ignorierte den Einwurf. „Ich kenne die alten Berichte auch. Nicht zuletzt ist ja vieles davon in den Fabeln überliefert, die heute noch allgemein bekannt sind. Aber wenn dieser Alte wirklich die Fähigkeit besitzt, sich in einen Fuchs zu verwandeln, hätten wir es mit Mächten zu tun, die weit jenseits unserer Vorstellungskraft liegen.“ „Und die Warnung des Fuchses? Oder des Mannes”, korrigierte Adalar sich. „Oder war es eine Drohung?”
„ Es lag keine Drohung in den Worten des Alten”, erklärte Kilian kleinlaut.
„ Gut, dann also eine Warnung. Aber wovor? Ich fürchte, diese Versammlung wirft mehr Fragen auf, als sie klärt”, gestand Adalar.
Hallimasch blätterte in seinen Aufzeichnungen. „Es ist wichtig, dass wir alles zusammentragen, was wir haben. Kinsella, würdest du bitte fortfahren?”
„ Gern. Ich muss zugeben, dass ich die Sache mit dem Baum, so seltsam sie auch war, nicht weiter verfolgte. Es passierte nämlich etwas, das ich im Licht der heutigen Erkenntnisse betrachtet, für nicht minder interessant für alle Anwesenden erachte. Auch wenn es zunächst nur persönlicher Natur zu sein schien. Lieber Grellon, ich bitte um Vergebung, aber ich muss den Behütern von Viviannes Nachricht berichten.”
„ Ich verstehe nicht, was das hier mitzutun hat?“, widersprach Grellon.
„ Vertrau mir. Lasst mich ein wenig ausholen, um euch die Begebenheit zu erklären. Ich denke, dass die meisten von euch sich noch an meine Nichte Vivianne erinnern?“
„ Sie war eine großartige Schülerin“, sagte Sulock, der Farindor.
„ Ein tolles Mädchen“, ergänzte Joshua, der Neolinga.
Grellon schmunzelte.
„ Neunseen ist nicht groß. Ich denke, wir alle wissen, worauf du hinaus willst, Kinsella. Die Probleme anderer Leute sind hier stets vom großen Interesse gewesen. Nichts für ungut, Grellon“, sagte Adalar.
„ Schon gut“, entgegnete Grellon knapp.
„ Es ist nicht die Tatsache an sich, dass Vivianne und Grellon sich trennten. So bedauernswert dies auch war. Ich möchte euch die Hintergründe enthüllen.“
Grellon erschrak. „Das führt aber jetzt wirklich zu weit!“, protestierte er.
„ Grellon, bitte. Auch du kennst noch nicht die ganze Geschichte. Einiges von dem, was ich euch jetzt berichte, beruht auf meinen eigenen Vermutungen und Recherchen. Ich denke aber, dass es den tatsächlichen Ereignissen sehr nahe kommt. Es war vor ziemlich genau zwölf Jahren. Grellon und Vivianne waren zu Besuch hier. Das war etwa ein Jahr vor der Geburt ihres Sohnes Roland. Ich habe Viviannes Mut stets bewundert. Sie verließ das Tal und meisterte ein Studium, das für viele im krassen Gegensatz zu ihrer Ausbildung als Hexe stand. Doch nicht für sie. Und sie ließ vieles dafür zurück. Es ist nicht
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