Der Sommer des Commisario Ricciardi
Räuber erstochen worden war, ging es ihm ausgesprochen gut. Das furchtbare Ereignis hatte ihm damals nicht nur das Herz gebrochen, sondern ihm und den Kindern auch die Frau und Mutter entfremdet, die sich ganz und gar ihrem stummen Schmerz ergeben hatte.
Bis im Frühling schließlich ein Wunder geschehen war. Er hatte schon nicht mehr daran geglaubt, sie noch einmallächeln zu sehen, doch hatten sie wieder zueinandergefunden wie einst vor so langer Zeit, und Raffaele hatte mit seinen fünfzig Jahren Grund, ganz unerwartet glücklich zu sein. Im Hause Maione ertönte wieder das lebhafte Lachen von Mutter und Kindern, der Vater ließ sich wieder gutmütig foppen. Sonntags erfreute wieder der Duft von Lucias legendärem Ragù Herz und Gaumen. Warum also begab sich der Brigadiere an diesem Sonntag missmutig und zornentbrannt zur Arbeit? Und warum hatte er sich den Sonntagsdienst auch noch selbst ausgesucht, ihn mit einem Kollegen getauscht, der seinen Ohren kaum traute, als Maione ihn darum bat?
Es begab sich folgendermaßen: Vor einer Woche war Raffaele mit seiner Frau und seinen fünf Kindern spazieren gegangen. Nach wenigen Metern kamen sie am Laden von Ciruzzo Di Stasio vorbei, einem Gemüsehändler und alten Schulfreund des Brigadiere, bei dem die Familie regelmäßig einkaufte. Der Mann war auf die Straße gekommen, hatte seinen Hut gezogen und Maiones Frau ein nettes Kompliment gemacht:
»Sie sehen hinreißend aus, Donna Lucia. Ihre Haare glänzen wie Gold und Ihre Augen schimmern blau wie das Meer. Eines Tages schreibe ich noch ein Lied für Sie, Sie wissen ja, dass ich gern singe. Was finden Sie bloß an unserem Bären hier?« Und er versetzte Maione einen freundschaftlichen Klaps auf die Uniformjacke, die sich über den vorstehenden Bauch spannte.
Lucia hatte gelacht und sich bedankt. Maione fand das gar nicht lustig, er war eifersüchtig. Allerdings wollte er es nicht zeigen und schluckte seinen Ärger hinunter, als Lucia zu ihm meinte, dass auch Ciruzzo sich gut gehaltenhabe und mit seinen fünfzig Jahren noch gertenschlank sei. Maione, der hundertzwanzig Kilo wog, hatte sich daraufhin noch schlechter gefühlt. In Wahrheit war Lucias Bemerkung der Sorge um die Gesundheit ihres Mannes geschuldet. Sein Vater hatte nämlich dieselbe Statur gehabt und war jung an einem Infarkt gestorben.
Von diesem Augenblick an wanderten Raffaeles Gedanken jedes Mal, wenn er etwas Essbares zu sich nahm, automatisch zu Ciruzzo und Lucia, was ihm umgehend schlechte Laune bereitete. Also hatte er beschlossen abzunehmen, und zwar sofort. Er würde diesem ungehobelten, Süßholz raspelnden Obstverkäufer schon zeigen, wer mit der schönsten Frau der Quartieri Spagnoli verheiratet war! Und hier war er nun, halblaut fluchend auf dem Weg zur Arbeit, an einem Sonntag, und das aus einem Grund, den er nicht einmal unter der Folter zugegeben hätte: um Lucias wundervollem Ragù aus dem Weg zu gehen.
Hinter den halb geöffneten Fensterläden beobachtete Lucia, wie ihr Mann sich auf den Weg ins Präsidium machte. Am Sonntag! Ausgerechnet als sie gerade das beste Ragù der Stadt gekocht hatte: Neun unterschiedliche Stücke Fleisch wurden dazu in Schmalz angebraten und einen ganzen Tag lang in Tomaten, Zwiebeln und Rotwein geschmort. Nicht zu glauben! Sie kannte ihren Mann gut; er würde niemals auf das Ragù verzichten. Also konnte es nur einen einzigen Grund geben: Raffaele dachte an eine andere Frau.
Für sein Schweigen und seine Verstimmungen in den letzten Tagen gab es keine andere Erklärung; es hatte begonnen, als sie mit den Kindern spazieren gegangen waren. Ganz offensichtlich hatte er jemanden kennengelernt, und die Bekanntschaft hatte sich auf seine Laune ausgewirkt.
Während sie mit dem Holzlöffel den Inhalt des großen Tontopfes umrührte, erinnerte sie sich an ihre Mutter, die stets gesagt hatte, die Laune der Köchin verändere den Geschmack der Speisen, die sie zubereite; man müsse glücklich sein, um zu kochen. Dieses Ragù wird bitter sein wie Galle, dachte sie.
Sie spürte die Eifersucht wie einen stechenden Schmerz in der Brust. Niemals würde sie zulassen, dass das Schicksal ihr noch einen ihrer Liebsten wegnahm. Lucia biss sich auf die Lippen und verließ ihren Platz am Fenster.
Enrica Colombo stand sonntags gerne früh auf, um alles fürs Mittagessen zu richten, während die Familie es sich an dem freien Tag noch ein wenig länger im Bett gemütlich machte. Ihre methodische Art verlangte nach Ordnung,
Weitere Kostenlose Bücher