Der Sommer des Commisario Ricciardi
und Ordnung erforderte Zeit. Als sie die Zutaten fürs Ragù auf den Tisch stellte, fragte sie sich, was ihre Eltern und Geschwister wohl denken würden, wenn sie zu singen anfinge.
Enrica war fünfundzwanzig Jahre alt und nie verlobt gewesen. Sie war nicht auffallend schön, doch auch nicht hässlich, da sie über eine durchaus weibliche Anmut und Freundlichkeit verfügte und feine Gesichtszüge hatte. Ein wenig zu groß vielleicht und Fremden gegenüber kaum zutraulich: Wer unvorsichtigerweise versuchte, die Distanz zu missachten, die sie zwischen sich und anderen aufbaute, erntete prompt einen strengen Blick hinter der runden Hornbrille. Diese Haltung beunruhigte die Elternsehr, denn sie befürchteten, ihre Erstgeborene könnte als alte Jungfer enden. Die jüngere Schwester nämlich war schon seit fast zwei Jahren verheiratet, und Enrica schien nicht einmal bereit, jemanden kennenzulernen. Sie hatte zwei Verehrer gehabt, deren Einladungen sie allerdings höflich, aber bestimmt ausgeschlagen hatte.
Doch Enrica war der Liebe gar nicht abgeneigt. Es war einfach nur so, dass sie wartete: darauf, dass der Mann, in den sie sich während langer rauer Winterabende und später in lauen duftenden Frühlingsnächten Schritt für Schritt verliebt hatte, endlich etwas unternehmen würde.
Nach einem Jahr hatte sie die Gelegenheit gehabt, mit ihm zu sprechen. Doch die Umstände waren leider nicht ganz so gewesen, wie sie es sich vorgestellt hatte: Als sie zum Mord an einer Kartenlegerin befragt wurde, bei der sie ein paar Mal gewesen war, erfuhr sie, dass es sich bei dem Mann ihrer Träume um einen Kommissar der Kriminalpolizei handelte. Die Vernehmung verlief nicht sehr freundschaftlich: Er brachte kaum ein Wort heraus und sie kochte vor Wut, da sie auf das Treffen ganz und gar nicht vorbereitet gewesen war. Wenigstens aber war das Eis gebrochen, und wenn sie sich jetzt abends zum Sticken ans Küchenfenster setzte, nickte sie dem Nachbarn von gegenüber leicht zu und er hob daraufhin unbeholfen die Hand zum Gruß. Das konnte man für wenig halten, doch ihr erschien es sehr viel.
Nun hieß es abzuwarten, bis Kommissar Luigi Alfredo Ricciardi, denn so hieß er, sich ihrem Vater vorstellen ließ, um ihn um Erlaubnis zu bitten, sie zu besuchen. Vielleicht würde es Zeit brauchen, gleichwohl würde er es ganz sicher tun. Würde er sich sonst jeden Abend pünktlichzwischen neun und halb zehn ans Fenster stellen, um ihr beim Sticken zuzusehen? Es war also nur eine Frage der Zeit.
Doch Enrica Colombo war ruhig und entschlossen. Und sie besaß viel Geduld.
Livia Lucani, verwitwete Vezzi, war der Ansicht, lange genug gewartet zu haben. Daher stand sie nun in Rom am Bahnhof, um den Eilzug nach Neapel zu nehmen, wo sie lange Ferien zu verbringen gedachte. Die Wahl ihres Ziels war natürlich kein Zufall; sie hatte damit Freunde und Verwandte verblüfft und war zum Lieblingsklatsch der vornehmen Gesellschaft in der Hauptstadt geworden.
Livia Vezzi war nämlich ziemlich bekannt. Sie war sehr schön, dunkelhaarig und feminin, hatte eine geschmeidige Figur und regelmäßige Gesichtszüge, deren Krönung ein kleines Grübchen am Kinn und ein umwerfendes Lächeln bildeten. Außerdem war sie die Ehefrau des berühmtesten Operntenors des Landes gewesen: Arnaldo Vezzi, ein unangefochtenes Genie, mehr als zehn Jahre lang Mittelpunkt der mondänen Berichterstattung. Sie selbst war ebenfalls Opernsängerin gewesen; mit ihrer schönen Altstimme hatte ihr eine glänzende Karriere bevorgestanden, die jedoch durch ihre Heirat unterbrochen wurde. Ihr Mann hatte zahlreiche Liebschaften gehabt, bevor man ihn vor einem halben Jahr in seiner Garderobe im Theater San Carlo in Neapel ermordet aufgefunden hatte. Auch in Livias Leben hatte es ein paar flüchtige Begegnungen gegeben, die in ihrem Herzen jedoch nur eine noch größere Einsamkeit zurückgelassen hatten. Und was ihre Ehe betraf, so konnte Livia sich nicht einmal an die letzte glückliche gemeinsame Zeit erinnern.
Nach dem Tod ihres Mannes hatten viele Männer sie umworben, denn neben ihrer Schönheit waren auch ihre finanzielle und gesellschaftliche Situation äußerst verlockend. Nicht viele Frauen konnten die Tochter des Duce, die Livia stets zu ihren Empfängen einlud, zu ihren Freundinnen zählen. Der schönen Witwe aber lag nichts an einer neuen Beziehung. Sie gab sich fröhlich und unbeschwert, hielt jedoch alle auf Distanz. Es hieß, sie denke an anderes.
Während sie die beiden
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