Die Mission des Wanderchirurgen
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Prolog
Z um wiederholten Male verspürte Pater Thomas an diesem Morgen eine gewisse Unruhe, ein unbestimmtes Gefühl, ja, eine dumpfe, wenn nicht gar dräuende Vorahnung – Zeichen, die er kannte, aber keineswegs schätzte, denn sie erwiesen sich häufig genug als berechtigt. Dabei lief auch heute wieder alles seinen gewohnten Gang. Es war ein schöner, wenngleich kalter Märztag im Jahre des Herrn 1579, und nichts deutete auf eine Besonderheit hin. Wie immer waren kurz nach der Prim seine Schüler aus den umliegenden Dörfern eingetroffen, hatten mit ihm ein Morgengebet in der Kapelle gesprochen und saßen nun in dem kleinen, mehr schlecht als recht beheizten Raum, dessen Fenster zum Innenhof des Klosters hinausführten. Tief über ihre Schiefertafeln gebeugt, kritzelten sie eifrig Buchstaben.
Pater Thomas seufzte unhörbar. Es war schon ein recht zusammengewürfelter Haufen, der da vor ihm hockte, neun Jungen und Mädchen unterschiedlichsten Alters, die sich mühten, die Kunst des Schreibens und des Lesens zu erlernen, und sich darüber hinaus mit den Vokabeln der lateinischen Sprache abplagten.
Abermals seufzte Thomas. Diese Schüler waren wie ein Klumpen feuchter Ton, dem man auf der Töpferscheibe Form geben musste. Geduld, Geduld und nochmals Geduld waren vonnöten, ihnen etwas beizubringen, viel mehr als bei den
Pueri oblati,
den offiziellen Klosterschülern, die sorgfältig ausgewählt wurden und demzufolge rasch Fortschritte machten. Wenn er auch nur geahnt hätte, welche Schwierigkeiten auf ihn zukommen würden, als der alte Abt Hardinus ihn kurz vor seinem Tode bat, eine Schule aufzubauen und Unterricht zu erteilen! Er hatte zugestimmt, obwohl ihm schon damals vor drei Jahren klar gewesen war, wie viel Zeit diese Aufgabe ihm abverlangen würde. Zeit, die er eigentlich für seine Forschungen brauchte. Er war Arzt und Prior in Campodios, dem altehrwürdigen Zisterzienserkloster im Nordspanischen, und darüber hinaus Autor eines Werkes namens
De morbis hominorum et gradibus ad sanationem
, eintausendzweihundert Seiten stark, mit prachtvollen, von kunstbegabten Mitbrüdern in zahllosen Stunden angefertigten Illustrationen. Das Werk, kurz
De morbis
oder
Über Krankheiten
genannt, stellte eine Sammlung der wichtigsten ärztlichen Erkenntnisse dar und teilte sich auf in die Kräuterkunde, die Lehre der Pharmakologie sowie die Wundchirurgie nebst dem Wissen zur Geburtshilfe. Pater Thomas war nicht wenig stolz auf das gewaltige Kompendium, zumal seine eigenen bescheidenen Beiträge neben denen so berühmter Meisterärzte wie Susruta von Benares, Hippokrates von Kos, Galenos, Dioskurides, Avicenna und vielen anderen darin auftauchten.
Er seufzte zum dritten Male. Und diesmal laut. Noch immer kritzelten die Schüler auf ihren Tafeln herum. Wie gern würde er jetzt seine Forschungen über den Schwarzen Senf und das Ruchgras vorantreiben! Beide Kräuter, dazu ihre Wirkverbindung mit Teufelskralle und Arnika, hatten ihm bereits achtbare Erfolge gegen das Reißen beschert. Doch er war dazu verdammt, hier zu sitzen, und musste Bruder Cullus, der eigentlich für das Vermitteln der Lese- und Schreibkunst verantwortlich war, vertreten. Cullus. Ein fröhlicher, sangesfreudiger, allseits beliebter Bruder, der allerdings gerne kräftig aß und noch lieber ein gehöriges Maul voll Wein nahm.
Thomas, der die asketische Lebensweise bevorzugte, war sicher, dass er die heutige Vertretung nur Cullus’ Schwäche für die Freuden der Tafel verdankte. Wer sich so wie er ernährte, musste sich nicht wundern, wenn die Gicht ihn in die große Zehe biss. Auf sein Jammern hin war Thomas mitten in der Nacht zu ihm geeilt und hatte sich das Fußglied im Schein mehrerer Kerzen angesehen. Es war rot wie der Kehlsack eines Truthahns gewesen und angeschwollen, als hätte jemand es aufgepumpt. Cullus hatte gestöhnt und alle Heiligen um Hilfe angefleht und behauptet, die bloße Berührung mit der Bettdecke bereite ihm schon Höllenqualen.
»Du isst zu fett und zu viel, und du verdünnst den Wein nicht«, hatte Thomas vorwurfsvoll gesagt.
»Oh, oh, oh, Bruder, so pack doch nicht so fest zu, ja, ja, da am Gelenk, da zwickt’s mich wie mit Feuerzangen!«, hatte der Dicke geheult, und Thomas war nichts anderes übrig geblieben, als ihm einen Weidenrindentrank und einen Pflanzenpresssaft der Herbstzeitlose zu verabreichen.
»Danke, danke, Bruder! Ich werde dich in meine Gebete einschließen und eine Kerze für dich in der Kapelle
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