Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman
beiden? Ich schloss die Augen. »Jetzt sind wir auf dem Weg«, sagte ich, »erzähl.« Und Heidi begann zu erzählen: »Ich arbeite beim norwegischen Konsulat in New York.« Ich unterbrach sie. »Da hast du einen weiten Weg hinter dich gebracht, um mich zu finden.« Sie lachte kurz. »Ja, ich habe darauf bestanden. Ich war der Meinung, dass ich dir einen Gefallen schulde.« Dazu sagte ich nichts, denn ich konnte mich nicht daran erinnern, Heidi einen Gefallen getan zu haben, dann konnte es höchstens damals in dem Boot gewesen sein, als der Wind aufzog und ein Unwetter nahte, aber dann fiel mir ein, dass Mutter es war, die uns rettete, und außerdem war das Ganze ja sowieso nur ein Traum, aber das war unwichtig, das gehörte auch zu meiner Buchführung. »Entschuldigung«, sagte ich stattdessen, ohne zu wissen, wofür ich mich eigentlich entschuldigte. Heidi fuhr fort:
»Deine Familie hat Kontakt zu uns aufgenommen, weil du nicht wie verabredet nach Hause gekommen bist. Sie haben sich natürlich Sorgen gemacht. Wie auch die Leute von Sheppard P. Der Rest ist einfach.« »Einfach?« »Man kann sich nicht verstecken. Du hinterlässt Spuren.« »Aber dass ausgerechnet du mich gefunden hast, das ist nicht einfach.« »So etwas kommt vor.« »So etwas kommt nicht einfach vor«, widersprach ich. »Das darf verdammt noch mal nicht vorkommen. Es gibt niemanden, der an so etwas glaubt.« »Aber jetzt ist es also passiert«, sagte sie, »indem ich ein bisschen nachgeholfen habe. Und ist es nicht eigentlich egal, was irgendjemand glaubt?«
Wir nahmen das Flugzeug von Chicago nach New York. Dort waren es noch drei Stunden bis zum nächsten Abflug. Heidi leistete mir Gesellschaft. Sie hatte sicher Bescheid bekommen, mich nicht aus den Augen zu lassen. Es war nett von ihr. Mir gefiel ihre Gesellschaft. Wir saßen an der Bar in der Ankunftshalle. Ich sollte abreisen. Sie sollte bleiben. Heidi wollte grünen Tee haben. Ich wollte ihn genauso grün haben. Ich schenkte ihr grünen Tee ein. »Sie scheint stark zu sein«, sagte sie. »Wer?« »Deine Mutter. Stark. Das kam mir als Erstes in den Sinn. Entschuldige, ich …« Sie unterbrach sich selbst. Ich wollte, dass sie weiterredete, mehr sagte, denn es gefiel mir, ihr zuzuhören, es gefiel mir, das zu hören, was sie sagte, das stimmte. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen«, sagte ich. »Ich habe sie ja nur einmal getroffen. Und trotzdem. Ich habe sie so erlebt, so stark, das habe ich als Erstes gedacht, stark.« »Sie war …« Jetzt war ich derjenige, der abbrach, der sich selbst unterbrach, und stattdessen sagte ich, als ich verstand, dass Heidi nichts sagen wollte, bevor ich nicht etwas gesagt hatte: »Übrigens haben sie mich in Sheppard P Scrabble genannt.« Heidi lachte. »Dabei haben wir gewonnen! Deine Mutter und ich!« Ich bestellte einen Kaffee. Der Lärm des Flughafens ging mir langsam auf die Nerven, Schritte, alle Arten von Schritten, jeder Schuh hatte sein eigenes Geräusch, sein Tempo, Koffer auf Rädern, Gepäckwagen, die verzerrten Stimmen in den Lautsprechern, die Eiswürfel, die in den Drinks der anderen klirrten, das war ohrenbetäubend, das Leben übertönte alles. »Du hast in Brüssel gearbeitet?« »Ja, dann bin ich hierhergekommen, ins Konsulat in New York, um auf solche Wirrköpfe wie dich aufzupassen.« »Danke. Das hätte trotzdem nie geschehen dürfen.« Ich musste es einfach sagen. Ich musste es wiederholen. »Es darf nicht passieren.« »Bist du jemals mit deinem Mondgedicht fertig geworden?« »Nein. Es blieb beim Titel. Ich habe viel zu viel geschrieben, was nicht mehr als ein Titel war. Zum Glück.« Heidi lehnte plötzlich ihren Kopf gegen meine Schulter; ich hätte mich jung fühlen müssen, doch das Gegenteil war der Fall, diese Nähe erinnerte mich nur an alles, was ich versäumt hatte. »Was hast du eigentlich in Sheppard P gemacht?« »Das darf ich nicht sagen. Ich unterliege der Schweigepflicht.« »Nur, dass du Scrabble genannt worden bist?« »Ja, da verläuft die Grenze.« Mein Flugzeug wurde aufgerufen. Heidi brachte mich zum Gate. Nein, sie ließ mich nicht aus den Augen. Sie hatte eine eigene Zugangskarte, sicher nur für Diplomaten, so dass sie mich bis zum Flugzeug bringen konnte, auch wenn sie selbst nicht flog. Es gab so viel mehr, was wir einander hätten fragen können, doch wir taten es nicht. Vielleicht war es am besten so. Was nützt es, etwas zu erzählen, wenn es sowieso vorbei ist? Ich hätte sagen können, dass ich
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