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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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sie nie vergessen hatte. Stimmt das? Gab es nicht Jahre in meinem Leben, in denen ich das meiste vergessen hatte? Ich spürte das Gewicht aller Tage auf mir, die ich vergeudet hatte. Heidi legte ihren Kopf zur Seite und lächelte. »Du schuldest mir einen Gefallen«, sagte sie. »Was auch immer.« »Das andere Gedicht, von dem du in diesem Sommer gesprochen hast. Ich würde es gern hören.« »Heute hast du Glück«, sagte ich. »Tatsächlich?« »Es ist das erste Gedicht, das ich geschrieben habe, und das einzige, das ich auswendig weiß.« Heidi kam näher. »Wie heißt es?« »Die Uhren am Drammensveien.« »Lass es mich hören.« »Erinnerst du dich an die vielen Uhrmacher am Drammensveien?« »Du brauchst nichts zu erklären. Lies es nur.« So stand ich am Flughafen J. F. K., in all dem Getümmel, in der engen Passage zwischen den Menschen, zwischen dem Ort und den Reisen, und las laut das Gedicht vor, das ich damals schrieb, als mein Leben noch so kurz war, dass ich noch alles zu schreiben vor mir hatte:
    Sehe ich
    zwei Uhren
    die unterschiedliche Zeit zeigen
    bekomme ich Angst
    Bin ich es,
    der falsch geht?
    Heidi beugte sich vor und küsste mich. Ich küsste sie. Es war dieser Kuss, der all diese Jahre auf uns gewartet hatte, einen Sommer nach dem anderen. Dann hatte ich also zumindest einen Satz geschrieben, der wahr war, dass ich ein Mädchen küssen würde, das Heidi hieß. Wir ließen einander los, bevor es zu spät war. Sie hielt immer noch meine Hand und sagte: »Pass gut auf dich auf, Funder. Versprichst du mir das?«
    Und als sie mich so nannte, Funder, drehte ich ihr den Rücken zu und weinte, denn da war ich bereits daheim, und daheim war ich ein anderer, eine andere Gestalt mit demselben, meinem wahren Namen.
    Dann ließ ich meinen Stock stehen. Ich brauchte keine Rücksichtnahme mehr.
    Der Flug war pünktlich und landete um 9.30 Uhr auf Gardermoen. Ich nahm ein Taxi direkt zum Diakonhjemmet Krankenhaus, wo Mutter im zweiten Stock in einem Einzelzimmer lag und starb, im gleichen Stockwerk, in dem mein Vater gestorben war. Ich setzte mich ans Bett. Ihr Gesicht war straff und weiß, nein, nicht weiß, es hatte eine Farbe, die es nicht gibt. Sie war bereits eine andere, keine Fremde, aber eine andere. Sie ähnelte einem Vogel. Es heißt, dass es die Augen sind, die als Erstes gehen. Der Blick wendet sich in eine Richtung, in die wir, die zurückbleiben, noch nicht sehen können. Das Sehvermögen verlässt den Körper. Der Körper wird blind. Mutter war außer Reichweite. Ihr Sehvermögen hatte mich verlassen, uns verlassen. Hörst du mich, Mutter? Ich bin weggefahren, um eine Weile fort zu sein. Ich bin zurückgekommen, um fertig zu werden. Ich hätte niemals diesen Satz schreiben dürfen. Sie hörte mich nicht. Die Ärzte sagten, sie litte nicht. Es war jetzt eine Frage von Tagen, vielleicht Stunden. Eines Nachts stand ich am Fenster, und wieder einmal sah ich die Stadt in einem Schatten nach dem anderen verschwinden. Da spürte ich einen Hauch, wie ein Windzug im Zimmer. Ich drehte mich um. Die Tür zum Flur war offen, doch es war niemand dort. Mutter hatte ihre Lage im Bett geändert. Ich beugte mich über sie. »Was war es, was du mir sagen wolltest? Als ich abgefahren bin?« Sie wartete eine Weile mit der Antwort, und ich wartete nicht, hielt die kleine Hand, die nur Haut und Knochen war. »Dass ich weiß, dass du auf dich aufpassen kannst, Funder. Und danke. Dass du auf mich aufgepasst hast.« Einen Moment glaubte ich, sie würde lächeln. Und deshalb behaupte ich, sie lächelte, das Letzte, was sie tat, war lächeln. Dann glitt sie davon, und ich musste an ihre Art denken, wie sie von den Felsen auf Nesodden immer ins Wasser glitt. Dieses Mal war es die Zeit, die sich über ihr schloss, ein paar Kreise im Raum, eine Welle, die langsam gegen die Wand schlug, ich konnte meine Wange an den Tod legen, und ich war es, der ihn tröstete, bevor alles ganz still wurde, als wäre nichts passiert, als hätte es nicht gerade eben ein Leben gegeben.
    Ich verbrachte die Tage bis zur Beisetzung in der Wohnung, in der ich gelebt hatte, bis ich neunzehn Jahre alt war. Rastlos lief ich zwischen Mutters und auch Vaters Dingen hin und her. Es war, als hätten auch sie mich verlassen. Sie glänzten nicht mehr. Die Wohnung war voll matten Lichts. Es war nicht nötig aufzuräumen. Mutter hatte aufgeräumt. In der Küche war fürs Frühstück gedeckt, das letzte Frühstück. Ich konnte mich aus meiner Kindheit noch

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