Das Turmzimmer
Ein neuer Anfang
Nicht ein einziger Tag ist in all den Jahren vergangen, an dem ich nicht an damals gedacht habe, als ich nach Liljenholm zurückkehrte. Es war im November 1941, kurz nach vier am Nachmittag, und genau dort, wo die Lindenallee endet und man plötzlich freie Sicht auf das Gut hat, blieben meine Füße wie von selbst stehen.
»Mein Gott!«
Meine liebe Nella, die vor mir ging, drehte sich um. Ihre Haut war wie Porzellan, selbst bei diesem Wind, der sich schon längst ihrer sorgsam aufgesteckten Frisur bemächtigt hatte. Sie strich sich eine Korkenzieherlocke aus dem Gesicht und setzte ihren Koffer für einen kurzen Moment ab.
»Was ist?«
Sie sah meinen zeigenden Finger nicht. Nahm lediglich wieder ihren Koffer in die Hand und zog den Kragen höher.
»Ich schlage vor, dass du dich beeilst«, sagte sie über die Schulter.
»Aber siehst du denn nicht …?«
»Komm endlich. Ein Unwetter zieht auf.«
Vor fünf Jahren waren wir das letzte Mal hier gewesen, und während unserer Abwesenheit war das Gut wie ein buckliger Greis in sich zusammengesunken. Oder vielleicht war es auch nur die Wildnis, die sich ausgebreitet hatte. Einige Gewächse lagen jetzt in der Dämmerung auf der Lauer, kletterten die dunkelroten Mauern hinauf und verdeckten den größten Teil des Eingangsbereichs. Das Loch inmitten dieser Wildnis, wo die Haustür sein musste, glich jedoch etwas Anderem, Bedeutsamerem als einem Loch. Es glich … ja, ich weiß nicht recht, wie ich das erklären soll. Aber stellen Sie sich vor, Sie öffnen ein altes, dickes Buch, das Sie noch einmal lesen wollen. Nichtsahnend blättern Sie ein paar Seiten um, das Papier knistert, und natürlich erwarten Sie, dass die Geschichte, die Sie kennen, beginnt. Vielleicht steht dort sogar Kapitel 1 , doch darunter ist nur ein Loch, so groß wie eine Faust, das sich durch alle Seiten bohrt, sodass nur noch halbe, verkrüppelte Sätze übrig sind. So hat es sich angefühlt, als ich Liljenholm erblickte. Selbst als ich näher herantrat, sah ich statt des Eingangs nichts als die beunruhigende Dunkelheit.
»Liljenholm ist nicht gerade mit Anmut gealtert«, stellte ich fest, nur um etwas zu sagen, das wieder Normalität schaffte. Nella hatte das Loch bereits fast erreicht. Flankiert von zwei mit Moos bewachsenen Steinlöwen, die mit gebleckten Zähnen auf ihren Hinterbeinen standen. Ich erinnerte mich schwach, sie schon einmal gesehen zu haben.
»Nein, hast du das erwartet?«, fragte sie und tätschelte zerstreut einen der Löwen. Den rechten, der die Hälfte seiner perückenähnlichen Mähne durch einen geraden Schnitt vom Scheitel bis zur Mitte seines muskulösen Rückens verloren hatte. Ihr Selbstbewusstsein überraschte mich, obwohl es das genau genommen nicht hätte tun sollen. Schließlich hatte sie, und nicht ich, ihre gesamte Kindheit hier verbracht. Achtzehn lange Jahre, zusammen mit ihrer Mutter, Antonia von Liljenholm.
Sie kennen den Namen? Ich hoffe es. Ungeachtet, was man sonst von Antonia halten mochte, war sie bis zum Zweiten Weltkrieg Dänemarks führende Autorin von Schauerromanzen, doch die Zeit ist mit ihrem Andenken nicht sanft umgegangen. Selbst die bedeutendsten ihrer 32 Romane sind mittlerweile in Vergessenheit geraten, und falls das auch auf ihre Lebensgeschichte zutreffen sollte, ist es wohl an mir zu erwähnen, dass alle in ihrem Umfeld gestorben oder verschwunden (oder wie in Nellas Fall nach Kopenhagen geflüchtet) sind, sodass Antonia die letzten zehn Jahre ihres Lebens ganz alleine auf dem Gut hier verbracht hatte. Sie starb im Alter von 52 Jahren an Krebs. 1936.
»Man muss sich einmal vorstellen, dass sie das ausgehalten hat, hier alleine zu wohnen«, rief ich genau in dem Augenblick, in dem der Umriss der Haustür sichtbar wurde und Nella den Schlüssel ins Schloss steckte und dreimal umdrehte. Wir waren einzig und alleine hier, um Ordnung in die von Antonia hinterlassenen Papiere zu bringen und die Erbstücke in Augenschein zu nehmen, bevor das Gut verkauft werden und unsere Zukunft beginnen sollte. Nun ja, Nellas Zukunft, um genau zu sein. Ich war nur hier, um Nella Gesellschaft zu leisten und zur Hand zu gehen, wo ich konnte. Ihre ungewichtige Begleiterin könnte man mich auch nennen, obwohl es angesichts meiner Erscheinung passender gewesen wäre, mich ihre gewichtige Begleiterin zu nennen. Nella drehte den Kopf und fing meinen Blick ein. Ihr Gesicht war gefühllos wie ein frischgebügeltes Laken.
»Bist du bereit?«, fragte sie
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