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Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman

Titel: Der Sommer, in dem meine Mutter zum Mond fliegen wollte - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: btb Verlag: Verlagsgruppe Random House GmbH
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stotterte, und jede Norwegischstunde zwang ihn der Lehrer, Rhododendron zu sagen, was er natürlich nicht hinbekam, und man braucht eigentlich gar nicht zu stottern, um Probleme mit diesem Busch zu bekommen, es wurde nur ro, ro, ro, und dann stotterte der Rest der Klasse auch, ich inbegriffen. Sie brauchen gar nichts anderes von mir zu denken, ro, ro, ro rolling home. Jedes Mal wieder gleich witzig. Aber wenn er sang, das hätten Sie hören mögen, dann flossen die Worte ohne jeden Knacks in der Platte, die Konsonanten rutschten nur so heraus, als ölte ihn die Melodie. Der Gesang war seine Werkstatt. Beim Gesang wurde er repariert. Mir ging es ähnlich, aber meine Scharten ließen sich kaschieren, jedenfalls ziemlich lange. Wenn ich schrieb, fiel alles an die richtige Stelle. Die Sprache war meine Werkstatt. In der Sprache wurde ich repariert.
    Als ich das erste Feuer entdeckte, irgendwo zwischen Slemmestad und Sandvika, und das Nadelöhr über der Kolsåsspitze sich als ein verirrter Stern herausgestellt hatte, ging ich hinunter zu Mutter, die auf der Terrasse saß, mit einer grünen Decke um die Beine, und Tee trank. Vor ihr lag das kleine gelbe Notizbuch, das sie immer bei sich hatte, und in dem sie Einkaufslisten aufschrieb und Buch führte. Für mich stand auch eine Tasse bereit. Ich schenkte sie fast voll, legte eine Zitronenscheibe oben drauf und schüttete ein halbes Kilo Zucker hinein, das auf den Boden sank und in einer Süße aufstieg, die das Saure überdeckte.
    »Was machst du?«, fragte Mutter.
    »Schreiben.«
    »Über was?«
    »Über den Mond.«
    »Bist du vorangekommen?«
    Ich musste fast lächeln. Mutter redete, als sollte ich am nächsten Montag einen Aufsatz abliefern. Aber eigentlich gefiel mir ihre Art zu fragen, denn es bedeutete, dass sie keine Ahnung davon hatte, was es hieß zu schreiben, ich meine, ernsthaft zu schreiben, nicht Postkarten, Einkaufslisten und langweilige Aufsätze. Sie hatte keine Ahnung, was ich da trieb. So gewann ich irgendwie die Oberhand. Vielleicht war es das erste Mal, dass ich die Oberhand gewann. Es war jetzt meine Sache zu erklären, was sie, oder vielleicht sogar der Rest der Welt, von mir aus auch der, nicht verstand. Ich seufzte schwer und gnädig.
    »Leider läuft es nicht so, Mutter.«
    »Nein? Wie läuft es dann?«
    »Man muss auf die Inspiration warten.«
    »Habe ich deshalb nichts gehört?«
    »Etwas hören? Glaubst du, man hört es, wenn jemand schreibt?«
    Mutter lachte und zündete sich eine Zigarette an.
    »Die Schreibmaschine, du Quatschkopf. Die habe ich nicht gehört.«
    »Aber ich habe es dir doch erklärt. Oder hast du das nicht verstanden? Ich warte auf die Inspiration, nicht wahr?«
    »Ja, natürlich. Du weißt doch, wie dumm ich bin.«
    Der Rauch der Zigarette kringelte sich um sie und nahm ihrem Gesicht die Farbe. Ich schaute zu Boden. Ich hasste es, wenn sie so redete. Es wirkte so jämmerlich, und ich wollte nicht, dass Mutter jämmerlich wirkte. Ich bereute, was ich gesagt hatte und wie ich es gesagt hatte.
    »So habe ich es nicht gemeint.«
    »Ich weiß.«
    »Der Titel steht jedenfalls schon fest. Monduntergang.«
    »Warum nicht Mondaufgang?«
    Es quälte mich sehr, dass sie an diesem Titel so herumklaubte. Er gehörte mir. Sie hatte mit ihm nichts zu tun. Niemand hatte das Recht, an ihm herumzuklauben. Ab jetzt würde ich ganz einfach den Mund halten.
    »Ich bin schließlich derjenige, der schreibt, nicht du«, sagte ich.
    »Ich finde nur, er klingt so pessimistisch. Ist es nicht schön, dass wir auf den Mond kommen?«
    »Wir? Willst du auch da hin?«
    Mutter drückte ihre Zigarette vorsichtig im Aschenbecher aus, ein bisschen Glut flog auf, und der Rauch glitt langsam fort, während ihr Gesicht näher rückte. Ob ich jetzt, zur schreibenden Stunde, wie es heißt, meine Mutter so sehe und versuche, in ihren Gesichtszügen zu lesen, oder es damals, am Abend der Mittsommernacht 1969 so war, das weiß ich nicht. Ich sollte es wissen, ich, der als ein Meister im Fach Erinnerung gilt. Aber die Menschen, die uns am nächsten stehen, ziehen sich zurück, wenn die Zeit zwischen sie und uns tritt, und die Erinnerung, dieser zerbrechliche und unbestimmbare Wasserspiegel, ist alles, an das wir uns lehnen und auf das wir vertrauen können. Wir müssen der unzuverlässigen Erinnerung trauen. Wo war Mutters Name? Sie beschriftete meine Kleider mit Namen, aber nicht ihre eigenen. Den Namen, mit dem sie geboren worden war, hatte sie gegen Vaters Namen

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