0613 - Mandragoros grausamer Garten
Wer behauptet, das Leben sei frei von Überraschungen, der hat entweder nie richtig gelebt oder ist ganz einfach am Leben vorbeigegangen.
Ich will mich bei Gott nicht als Maßstab aller Dinge ansehen, aber arm an Überraschungen ist mein Leben bestimmt nicht, was ja inzwischen einigermaßen bekannt ist.
Und gerade deshalb freut man sich auf die ruhigen Tage, die auch hin und wieder zu langen Mußestunden einladen, wo der Mensch über sich selbst und sein Leben nachdenken kann.
So erging es mir an diesem Sonntag im späten November. Es war einer der typischen trüben Tage, mit dem tiefen Himmel, den bleigrauen Wolken, einer Temperatur dicht über dem Gefrierpunkt und einem Wind, der manchmal böig und wild in die Straßen blies, als wollte er das letzte Herbstlaub vom Asphalt fegen.
Ab und zu öffneten sich die Wolken und entließen heftige Regenschauer, die in den höheren Regionen mit Schnee vermischt waren.
London blieb davon verschont.
An solchen Tagen wollte es auch nicht richtig hell werden. Man hatte den Eindruck, als wäre es die Sonne leid, sich zu zeigen. Sie blieb hinter den Wolken und überließ die Menschen sich selbst.
Da stiegen die Anfälle von Depressionen, da zerrte das Alleinsein an vielen Nerven, da wurden Selbstmordgedanken geboren, und da wünschten sich viele, daß dieser lange, trübe, sonnenlose Sonntag endlich vorüber war.
Selbst die Straßen waren ziemlich leer, man bekam sogar noch Parkplätze. Selbst Touristen hielten sich in ihren Hotels versteckt, anstatt mit gierigen Blicken durch die Straßen zu laufen und nach geöffneten Geschäften zu suchen.
Auch ich verspürte nicht die geringste Neigung, meine Wohnung zu verlassen. Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen stimmte mich das Wetter nicht traurig. Die sonntägliche Ruhe tat mir gut, denn die Zeiten waren normalerweise hektisch genug für mich, da konnte ein derartiger Tag zum Balsam für die Seele werden.
Ich hatte mir vorgenommen, die Beine und ebenfalls die Seele so richtig baumeln zu lassen und nicht an irgendwelche Dämonen oder Teufel zu denken. Mal spät aufstehen, länger duschen als gewöhnlich, mal das Frühstück in Ruhe genießen und schöne Musik hören.
An diesem Tag stand ich auf Klassik, lauschte einem Violinkonzert von Beethoven und fühlte mich rundherum wohl.
Vielleicht auch deshalb, weil ich zu den Menschen gehörte, die sich mit sich selbst beschäftigen können. Allerdings hatte ich schon ein etwas schlechtes Gewissen. Anstatt hier herumzusitzen, hätte ich eigentlich in Frankreich sein sollen, um dem Abbé Bloch und seinen Templern die Ikone aus dem Templerschatz zu bringen. Es war ein sehr wertvolles Stück. Wenn sie es verkauften, würden sie ein kleines Vermögen dafür bekommen, und Geld konnte die Gruppe gut gebrauchen, um sich über Wasser zu halten.
Die Reise hatte ich nicht deshalb aufgeschoben, weil mir die Lust fehlte, nein, es war einfach zuviel dazwischengekommen. Der Job ließ mich nicht los. Zuletzt hatte ich, zusammen mit Jane Collins, eine gefährliche Hexe besiegt, die sich ein gewaltiges Reich hatte aufbauen wollen und Männer zu einer Liebesnacht in ihr Schloß lockte.
Mit dem linken Auge schielte ich zum Fenster. Am Himmel hatte sich nichts verändert. Noch immer bildeten die Wolken ein bleigraues Meer. Sie schienen mir sogar tiefer gesunken zu sein.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Musik, rauchte eine Zigarette, hatte die Beine ausgestreckt und die Augen halb geschlossen. Dabei dachte ich darüber nach, ob ich die restlichen Stunden des Tages tatsächlich nur in der Wohnung verbringen oder zu einem Spaziergang aufbrechen sollte. Mir den kalten Wind um die Nase wehen zu lassen, dem Wasser der Themse zuzuschauen, durch das feuchte Laub des Hyde Park laufen, all das wäre nicht schlecht gewesen.
Zu nichts konnte ich mich entscheiden, denn ich war einfach zu träge. Was Suko vorhatte, wußte ich nicht. Er wohnte nebenan und hatte ebenfalls davon gesprochen, einen ruhigen Tag zu verleben. Es wäre auch nicht schlecht gewesen, mal wieder richtig schön essen zu gehen, mir fehlte in diesem Jahr noch der Gänsebraten, aber allein in einem Lokal zu sitzen, dazu hatte ich auch keine Lust.
Glenda und Jane wären bestimmt nicht mitgekommen. Aus Figurgründen verzichteten sie auf Gänse, was mich allerdings nicht störte. Ich konnte essen, was ich wollte, und behielt mein Gewicht bei.
So richtig faul sein, herrlich. Wieder mußte ich die Arme ausstrecken und genoß es wie eine
Weitere Kostenlose Bücher