Der Sommernachtsball
Aschenputtel. Dort, wo sie von ihren Vorbildern abweicht (und zwar auf geniale Weise), tut sie das vor allem in der Charakterzeichnung: So etwas wie eine klare Unterteilung in Gut und Böse gibt es für sie nicht. Der Prinz ist zwar charmant, aber auch ein wenig langweilig, vulgär und selbstzufrieden. Aschenputtel ist schön und aufrichtig, aber ein wenig phlegmatisch. Jede Gesellschaftsschicht ist mit den ihr eigenen Vorurteilen behaftet, ein Thema, das all ihre Bücher durchzieht. Indem Gibbons uns die an sich einfühlsamen Figuren auch von ihren Schattenseiten zeigt, enthüllt sie manchmal auch deren Borniertheit in einer Weise, die den modernen Leser irritieren mag. Wie beiläufig begegnet man in den Romanen dieser Zeit auch Antisemitismus und Rassismus, was uns einen erschreckenden Einblick in den Geist dieser Zeit zwischen den Kriegen gewährt. Virginia Woolf, T. S. Eliot, Agatha Christie und W. B. Yeats, sie alle mussten sich den Vorwurf gefallen lassen, dies in ihren Werken für alle Zeiten festzuhalten. Es ist nicht leicht zu beurteilen, inwieweit Stella Gibbons solche Ansichten teilte oder ob sie in ihren Romanen nur mit den Mitteln der Satire ihrer Kultur den Spiegel vorzuhalten versuchte. Bemerkenswert ist, dass solche Themen bei ihr meist in Dialogen vorkommen, wie um die Engstirnigkeit der Figuren zu verdeutlichen. Diese Stellen zu eliminieren hieße zu verleugnen, was war, und auch wenn es Unbehagen weckt, wenn man heute darauf stößt, so sind und bleiben sie ein Mahnmal ihrer Zeit.
Wie muss sich eine Schriftstellerin gefühlt haben, die fünfundzwanzig Romane, vier Gedichtbände und drei Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht hat und doch zeit ihres Lebens (und darüber hinaus) vor allem für ihren ersten Roman, Cold Comfort Farm , bekannt war? Er wurde 1932 veröffentlicht, als sie dreißig Jahre alt war. Sie ist selbst in einer Familie aufgewachsen, die denen ähnelt, die sie so gerne satirisch beschrieben hat: gebildete Mittelklasse, der Vater war Arzt. Im Londoner Stadtteil Kentish Town, wo er praktizierte, wurde er für seine Menschlichkeit geehrt, als Familienvater jedoch war er ein Tyrann. Solche Wurzeln prägen, ganz gleich welchen Lebensweg man einschlägt. Meiner Meinung nach haben sie auch ihr schriftstellerisches Schaffen beeinflusst: Die Männer in ihren Büchern, egal welchen Standes, sind meist mit einer Prise Vorsicht zu genießen. Das Los der Frau schildert sie mit großer Einfühlsamkeit, jeder Menge Humor und tiefem Mitgefühl. Alle Frauen im Sommernachtsball leiden auf ihre eigene Art unter der erstickenden Situation ihrer Geschlechterrolle. Am deutlichsten drückt die Situation der Frauen in den 1930ern wohl Shirley, Violas beste Freundin aus, die trocken verkündet: »Wahlrecht, Marie 3 und Dauerwellen und all das, und wir können doch nichts machen.«
Aber wo Schatten ist, da ist auch Licht, und auch hier beweist uns Gibbons ihr Talent durch die Leichtigkeit, mit der sie zwischen beidem wechselt. Man erkennt, dass es im Sommernachtsball nicht bloß eine Heldin gibt, sondern mehrere, und jede von ihnen erhält die verdiente Belohnung für ihre Leiden. Es gibt Romantik im Überfluss; DEN Ball und DAS Ballkleid; wilde Küsse hinter Hecken, Einblicke in das Leben der betuchten Kreise, Rache und Flucht; Kämpfe und ein Feuer; Herzschmerz und Poesie; zwei Hochzeiten und einen Todesfall; und ein ganz besonderes Happy End.
Was für eine Freude, auf dieses herrlich skurrile Buch zu stoßen und auf diese faszinierende, ungewöhnlich moderne Autorin. Es wird höchste Zeit, dass dieses Werk sein Encore erhält.
Sophie Dahl, 2008
1 to wither: verwelken, verdorren, Anm.d.Übers.
2 »Die Adler« – so viel wie »Adlerhorst«, Anm.d.Übers.
3 Marie Stopes (1880–1958), schottische Botanikerin, Autorin und Frauenrechtlerin (»Suffragette«), Anm.d.Übers.
STELLA DOROTHEA GIBBONS , 1902 in London geboren, besuchte die North London Collegiate School und studierte Journalismus am University College London. Sie arbeitete für diverse Zeitungen und Zeitschriften, bevor sie sich ganz dem Schreiben von Büchern widmete. Gibbons’ erste Veröffentlichung im Jahr 1930 war eine Gedichtsammlung, »The Mountain Beast«. Zwei Jahre später erschien ihr erster und zugleich bekanntester Roman »Cold Comfort Farm«. Es folgten weitere Bücher, unter anderem die charmante Aschenputtelgeschichte »Der Sommernachtsball«. 1933 heiratete Gibbons den Sänger und Schauspieler Alan Webb, mit dem sie
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