Der Stein - Hohler, F: Stein
Lärmigkeit abstieß. Bianca sang gerne und hörte gerne Musik, und als ihre Mutter sie zu einer Pianistin, mit der sie befreundet war, in den Klavierunterricht schickte, wunderte sie sich, wie wenig sie ihre Tochter zum Üben anhalten musste, denn Bianca war offensichtlich erpicht darauf, in der Landschaft aus weißen und schwarzen Tasten heimisch zu werden. Ihr Bruder hingegen übte auf seinem Cello mit ständigem Blick auf die Armbanduhr genau die vorgeschriebene Mindestzeit von einer Viertelstunde und stellte dann das Instrument missmutig wieder weg. Auch er hörte gerne Musik, aber nicht klassische, wie seine Schwester, sondern Jazzplatten. Da ihre beiden Zimmer nebeneinander lagen und beide einen einfachen Grammophonapparat besaßen, kam es öfter zu musikalischen Kriegen, etwa zwischen Giuseppe Verdi und Duke Ellington oder zwischen Robert Schumann und Charly Mingus. Erst wenn
beide den krächzenden Lautsprecher auf das Maximum gedreht hatten, begannen sie mit Verhandlungen über einen Stundenplan ihrer Hörzeiten.
Die Mutter, welche sich als Gesangslehrerin betätigte und auch als Altistin für Oratorien und Messen gefragt wurde, besuchte gelegentlich eine Aufführung in der »Scala« im nahen Milano und nahm ihre Tochter mit. Es war Ende der fünfziger Jahre, in denen Tito Gobbi den Rigoletto sang und Maria Callas die Lucia di Lammermoor. Bianca war begeistert, und einmal musste die Mutter sie stupsen, weil sie begonnen hatte, in der Wahnsinnsarie bei »Spargi d’amaro pianto« leise mitzusingen.
Biancas musikalisches Talent fiel auf. Bei den Vortragsübungen ihrer Klavierlehrerin stach sie nicht nur durch ihre Sicherheit hervor, mit der sie ihr gewähltes Stück auswendig spielte, sondern auch durch die Anmut ihres Vortrags, eine gewisse liebevolle Zuwendung zu den Tönen, etwa zu einzelnen Läufen, die sonst nur als Brücken zum nächsten Motiv angesehen wurden und die unter ihren Händen zu etwas Bedeutungsvollem heranwuchsen.
Mit fünfzehn Jahren fing sie mit Orgelunterricht an, und als sie nach einer Weile einmal in der Woche allein in der Collegiata-Kirche eine Stunde üben durfte, fand sie ein großes Vergnügen daran, mit den Klängen eines Präludiums oder einer Toccata einen Raum von dieser Größe zu füllen. Oft saß sie noch lange nach der Schluss-Fermate auf der Orgelbank und horchte den Klängen nach, die wie Fledermäuse irgendwo in den Gewölben zu verschwinden schienen.
Es begannen nun auch die kleinen bezahlten Einsätze bei bestimmten Gelegenheiten, das Einspringen bei einer sonntäglichen Frühmesse oder bei einer Abdankung auf dem Harmonium der Friedhofskapelle. Auch begleitete sie des Öftern ihre Mutter auf dem Klavier, wenn sie ihre Oratorienauftritte vorbereitete, wofür diese ihr stets ein kleines Taschengeld gab.
Von ihren musizierenden Mitschülern wurde sie gerne zum Mitmachen bei kammermusikalischen Anlässen gefragt, und wer sie als Begleiterin eines virtuosen Flötenspielers und eines Cellisten am Flügel sah und hörte, wurde von der Grazie der Jugend angerührt.
Einmal im Jahr lud der Vater seine beiden Kinder nach Buenos Aires ein. Die Mutter bestand darauf, dass sie nicht gemeinsam reisten, aus Angst vor einem Flugzeugabsturz. So flogen sie zunächst stets an zwei aufeinanderfolgenden Tagen hin und zurück und verbrachten im Sommer drei oder vier Wochen mit ihrem Vater, etwas später ging Roberto, ihr Bruder, im Frühling hin, und Bianca im Sommer. Ihr Vater wickelte den ganzen Export argentinischen Rindfleisches in die Schweiz ab, und da auf den Schweizer Wiesen nicht genügend Huftsteaks und Entrecôtes weideten und nicht einmal die Nachfrage nach Bündnerfleisch aus den einheimischen Ställen befriedigt werden konnte, wurde er außerordentlich wohlhabend dabei. Er bewohnte inzwischen mit seiner zweiten Frau eine Villa im Recoleta-Viertel, einer der nobelsten Adressen der Stadt. Zu Biancas Überraschung stand, als sie mit sechzehn zu Besuch kam, im Salon des
Hauses ein Bösendorfer-Konzertflügel, auf dem sie spielen durfte, so viel sie wollte. Das machte ihr die Ferienaufenthalte, über deren Pflichtmäßigkeit sie gerade begonnen hatte sich zu beklagen, wieder angenehmer, obwohl ihr die neue Frau des Vaters nicht sympathisch war, sie war dessen Sekretärin gewesen und wollte nun, so kam es Bianca vor, die Dame von Welt spielen, die sie in keiner Weise war. Wenigstens gab es keine Halbgeschwister, und so hatte der Vater niemanden zum Vergöttern als seine
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