Der steinerne Kreis
spielten. Unter den Kindern entdeckte sie auf einmal ihn: wie er mit seiner Wollmütze auf dem Kopf ganz in seine Sandbauten vertieft war – Burgmauer, Wassergraben und Festung.
Sie versteckte sich hinter einem Baum, um ihn in Ruhe zu beobachten, und merkte, wie sie lächelte. Anfang November war Lucien erwacht. Am 22. November war er aus der Necker-Klinik entlassen worden. Schon in den ersten beiden Dezemberwochen hatte er seine Lieblingsspiele wieder aufgenommen. Am 14. Dezember hatte er zum ersten Mal die beiden Silben gesprochen, die sie zugleich herbeisehnte und fürchtete: »Mama.« Diane war sich inzwischen ganz sicher, dass die Vergangenheit ihm nichts mehr anhaben konnte.
Sie hatte sich geschworen, nie wieder an die Abgründe der Grausamkeit zu denken, die sie erlebt hatte, die unfasslichen Experimente, denen sie auf die Spur gekommen war – das Universum selbst wurde davon aus den Angeln gehoben; vor ihren Augen. Im Lauf der Wochen seit ihrer Rückkehr war sie zu einer neuen Überzeugung gelangt – ein Gedanke, der ihr einen geheimen Trost spendete. Sie dachte an Jewgenij Talich, den Mann, der seinem Volk die verlorenen Kräfte zurückgeben wollte, und fand, dass sie eine geistige Kontinuität mit ihm hergestellt und im Gegenzug eine neue Klarheit und ein ungewöhnliches Wissen gewonnen hatte. Sie selbst war zu einer Art Eingeweihten geworden. Und damit würde sie für Lucien die beste aller Mütter werden. Sie hatte sich mit den Familien in Verbindung gesetzt, in denen die übrigen Wächter untergekommen waren – darunter auch der Familie von Irène Pandove, die das Kind vom See aufgenommen hatte –, und sich fest vorgenommen, sie zu beraten und zu unterstützen, falls die heranwachsenden Kinder sonderbare Fähigkeiten an den Tag legten.
Sie verließ ihr Versteck und ging auf den Sandkasten zu. Lucien war wieder in Begleitung seines Kindermädchens, der jungen Thailänderin vom Frankreich-Asien-Institut. Als er sie erblickte, sprang er auf und lief ihr entgegen. Diane verkniff sich einen Schmerzensschrei, als er sich mit vollem Gewicht gegen ihren genähten Arm warf, und genoss stattdessen die Frische seiner Wangen. Eines wusste sie mit Sicherheit: Sie war auf dem Weg der Genesung, und für ihre Heilung gab es keine bessere Arznei als die Nähe dieses Kindes, die sie wie ein engmaschiges Netz auffing, das gewebt war aus Luciens unbekümmerten Wünschen und Bedürfnissen. Alles an ihm bedeutete für sie eine Erneuerung, die ihrem Leben eine Leichtigkeit und Transparenz verlieh, wie sie sie vorher nie gekannt hatte.
Auf einmal fing sie an zu lachen und drehte sich mit ihrem Kind unter den Wipfeln der Bäume im Kreis. Ja, sie hatte jetzt nur noch eine einzige Aufgabe: sich an diese Lichtung der Unschuld, diese Anhöhe der Zärtlichkeit anzupassen, die fortan den einzigen Kreis ihres Lebens bilden würde. Sie schloss die Augen und sah nichts mehr als einen Schauer gleißender Lichtpunkte.
»Mit Die purpurnen Flüsse hat Jean-Christophe Orange hohe Maßstäbe in der europäischen Thrillerliteratur gesetzt.«
HAMBURGER ABENDBLATT
Jean-Christophe Grangé
Die purpurnen Flüsse
Zwei Tote im Gletscher. Ein verschwundenes Kind. Rätselhafte Aufzeichnungen, die auf ein furchtbares Verbrechen hindeuten … In der Nähe von Grenoble wird die Leiche eines Bibliothekars entdeckt. Der ermittelnde Kommissar glaubt zunächst an einen Ritualmord, bis kurz darauf eine zweite Leiche ganz in der Nähe im Gletscher gefunden wird. Gezielt gelegte Spuren haben die Polizei zu diesem Fund geführt. Etwa zeitgleich versucht ein Inspektor in einem französischen Provinznest, das rätselhafte Verschwinden eines zehnjährigen Schülers aufzuklären. Als sich herausstellt, dass beide Kriminalfälle in engem Zusammenhang stehen, beginnt eine fieberhafte Spurensuche. Bald wird klar, dass die beiden Toten keine unschuldigen Opfer waren und die »purpurnen Flüsse« erweisen sich als Chiffre für ein furchtbares Verbrechen.
400 Seiten
Gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 3-431-03543-4
EHRENWIRTH VERLAG
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