Der Steppenwolf
bekannt.
»Nein«, sagte ich, »es ärgert mich nicht, ich bin längst daran gewöhnt. Ich habe ein paarmal die Meinung geäußert, jedes Volk und sogar jeder einzelne Mensch müsse, statt sich mit verlogenen politischen ›Schuldfragen‹ in Schlummer zu wiegen, bei sich selber nachforschen, wieweit wir selbst durch Fehler, Versäumnisse und üble Gewohnheiten mit am Kriege und an allem andern Weltelend schuldig sei, das sei der einzige Weg, um den nächsten Krieg vielleicht zu vermeiden. Das verzeihen sie mir nicht, denn natürlich sind sie selber vollkommen unschuldig: der Kaiser, die Generäle, die Großindustriellen, die Politiker, die Zeitungen – niemand hat sich das geringste vorzuwerfen, niemand hat irgendeine Schuld! Man könnte meinen, es stehe alles herrlich in der Welt, nur liegen ein Dutzend Millionen totgeschlagener Menschen in der Erde. Und sieh, Hermine, wenn solche Schmähartikel mich auch nicht mehr ärgern können, manchmal machen sie mich doch traurig. Zwei Drittel von meinen Landsleuten lesen diese Art von Zeitungen, lesen jeden Morgen und Abend diese Töne, werden jeden Tag bearbeitet, ermahnt, verhetzt, unzufrieden und böse gemacht, und das Ziel und Ende von dem allem ist wieder der Krieg, ist der nächste, kommende Krieg, der wohl noch scheußlicher sein wird, als dieser es war. Alles das ist klar und einfach, jeder Mensch könnte es begreifen, könnte in einer einzigen Stunde Nachdenkens dasselbe Ergebnis finden. Aber keiner will das, keiner will den nächsten Krieg vermeiden, keiner will sich und seinen Kindern die nächste Millionenschlächterei ersparen, wenn er es nicht billiger haben kann. Eine Stunde nachdenken, eine Weile in sich gehen und sich fragen, wieweit man selber an der Unordnung und Bosheit in der Welt teilhat und mitschuldig ist – sieh, das will niemand! Und so wird es also weitergehen, und der nächste Krieg wird von vielen tausend Menschen Tag für Tag mit Eifer vorbereitet. Es hat mich, seit ich es weiß, gelähmt und zur Verzweiflung gebracht, es gibt für mich kein »Vaterland« und keine Ideale mehr, das ist alles ja bloß Dekoration für die Herren, die das nächste Schlachten vorbereiten. Es hat keinen Sinn, irgend etwas Menschliches zu denken, zu sagen, zu schreiben, es hat keinen Sinn, gute Gedanken in seinem Kopf zu bewegen – aufzwei, drei Menschen, welche das tun, kommen Tag für Tag tausend Zeitungen, Zeitschriften, Reden, öffentliche und geheime Sitzungen, die alle das Gegenteil anstreben und auch erreichen.« Hermine hatte mit Teilnahme zugehört.
»Ja«, sagte sie nun, »da hast du schon recht. Natürlich wird es wieder Krieg geben, man braucht keine Zeitungen zu lesen, um das zu wissen. Darüber kann man natürlich traurig sein, einen Wert hat das aber nicht. Es ist gerade so, wie wenn einer darüber traurig ist, daß er trotz allem und allem, was er dagegen tun mag, unweigerlich einmal wird sterben müssen. Der Kampf gegen den Tod, lieber Harry, ist immer eine schöne, edle, wunderbare und ehrwürdige Sache, also auch der Kampf gegen den Krieg. Aber er ist auch immer eine hoffnungslose Donquichotterie.« »Das ist vielleicht wahr«, rief ich heftig, »aber mit solchen Wahrheiten wie der, daß wir doch alle bald sterben müssen und also alles wurst und egal ist, macht man das ganze Leben flach und dumm. Ja sollen wir denn also alles wegwerfen, auf allen Geist, auf alles Streben, auf alle Menschlichkeit verzichten, den Ehrgeiz und das Geld weiterregieren lassen und bei einem Glas Bier die nächste Mobilmachung abwarten?«
Merkwürdig war der Blick, mit dem Hermine mich nun ansah, ein Blick voll Belustigung, voll Spott und Schelmerei und verständnisvoller Kameradschaft und zugleich so voll Schwere, Wissen und abgründigem Ernst!
»Das sollst du nicht«, sagte sie ganz mütterlich. »Dein Leben wird auch dadurch nicht flach und dumm, wenn du weißt, daß dein Kampf erfolglos sein wird. Es ist viel flacher, Harry, wenn du für etwas Gutes und Ideales kämpfst und nun meinst, du müssest es auch erreichen. Sind denn Ideale zum Erreichen da? Leben wir denn, wir Menschen, um den Tod abzuschaffen? Nein, wir leben, um ihn zu fürchten und dann wieder zu lieben, und gerade seinetwegen glüht das bißchen Leben manchmal eine Stunde lang so schön. Du bist ein Kind, Harry. Sei jetzt folgsam und komm mit mir, wir haben heut viel zu tun. Ich werde mich heut nicht mehr um den Krieg und die Zeitungen kümmern. Und du?«
O nein, auch ich war bereit.
Wir gingen
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