Der Steppenwolf
weil er Zahnweh hat oder Geld verloren, sondern weil er einmal für eine Stunde spürt, wie allesist, das ganze Leben, und er ist dann richtig traurig, dann sieht er immer ein wenig einem Tier ähnlich – er sieht dann traurig aus, aber richtiger und schöner als sonst. So ist es, und so hast du ausgesehen, Steppenwolf, als ich dich zuerst gesehen habe.«
»Nun, Hermine, und was denkst du über jenes Buch, in dem ich beschrieben stehe?«
»Ach weißt du, ich mag nicht immer denken. Wir sprechen ein andermal davon. Du kannst es mir ja einmal zu lesen geben. Oder nein, wenn ich einmal wieder zum Lesen kommen sollte, dann gib mir eins von den Büchern, die du selber geschrieben hast.«
Sie bat um Kaffee und schien eine Weile unaufmerksam und zerstreut, dann plötzlich strahlte sie und schien mit ihren Grübeleien zu einem Ziel gelangt zu sein.
»Hallo«, rief sie freudig, »jetzt hab ich’s!«
»Was denn?«
»Das mit dem Foxtrott, ich mußte die ganze Zeit daran denken. Also sag: hast du ein Zimmer, in dem wir zwei hie und da eine Stunde tanzen könnten? Es kann klein sein, das macht nichts, bloß darf nicht gerade irgendeiner unter dir wohnen, der dann heraufkommt und Skandal macht, wenn es über ihm ein wenig wackelt. Also gut, sehr gut! Dann kannst du zu Hause tanzen lernen.«
»Ja«, sagte ich schüchtern, »desto besser. Aber ich dachte, man brauche auch Musik dazu.«
»Natürlich braucht man. Also paß auf, die Musik wirst du dir kaufen, das kostet höchstens soviel wie ein Tanzkurs bei einer Lehrerin. Die Lehrerin sparst du, die mache ich selber. Dann haben wir Musik, sooft wir wollen, und das Grammophon bleibt uns obendrein.«
»Das Grammophon?«
»Selbstverständlich. Du kaufst so einen kleinen Apparat und ein paar Tanzplatten dazu . . .«
»Herrlich«, rief ich, »und wenn es dir wirklich gelingt, mir das Tanzen beizubringen, dann bekommst du das Grammophon als Honorar. Einverstanden?«
Ich sagte das sehr forsch, aber es kam nicht von Herzen. In meinem Studierstübchen mit den Büchern konnte ich mir einen solchen, mir keineswegs sympathischen Apparat nicht vorstellen,und auch gegen das Tanzen hatte ich vieles einzuwenden. So gelegentlich, hatte ich gedacht, konnte man es ja einmal probieren, obwohl ich überzeugt war, ich sei viel zu alt und steif und würde es nicht mehr lernen. Aber nun so Schlag auf Schlag, das war mir zu rasch und heftig, und ich spürte alles in mir Widerstand leisten, was ich als alter verwöhnter Musikkenner gegen Grammophone, Jazz und moderne Tanzmusiken einzuwenden hatte. Daß jetzt in meiner Stube, neben Novalis und Jean Paul, in meiner Gedankenklause und Zuflucht amerikanische Tanzschlager erklingen und ich dazu tanzen sollte, das war eigentlich mehr, als ein Mensch von mir verlangen konnte. Aber es war ja nicht »ein Mensch«, der es verlangte; es war Hermine, und sie hatte zu befehlen. Ich gehorchte. Natürlich gehorchte ich.
Wir trafen uns am nächsten Nachmittag in einem Café. Hermine saß schon dort, als ich kam, trank Tee und zeigte mir lächelnd eine Zeitung, in der sie meinen Namen entdeckt hatte. Es war eines der reaktionären Hetzblätter meiner Heimat, in welchen immer von Zeit zu Zeit heftige Schmähartikel gegen mich die Runde machten. Ich war während des Krieges Kriegsgegner gewesen, ich hatte nach dem Kriege gelegentlich zu Ruhe, Geduld, Menschlichkeit und Selbstkritik gemahnt und mich gegen die täglich schärfer, törichter und wilder werdende nationalistische Hetzerei gewehrt. Da stand nun wieder solch ein Angriff, schlecht geschrieben, halb vom Redakteur selbst verfaßt, halb aus den vielen ähnlichen Aufsätzen der ihm nahestehenden Presse zusammengestohlen. Niemand schreibt bekanntlich so schlecht wie die Verteidiger alternder Ideologien, niemand treibt sein Handwerk mit weniger Sauberkeit und Mühewaltung. Den Aufsatz hatte Hermine gelesen und hatte daraus erfahren, daß Harry Haller ein Schädling und vaterlandsloser Geselle sei und daß es natürlich mit dem Vaterland nicht anders als übel stehen könne, solange solche Menschen und solche Gedanken geduldet würden und die Jugend zu sentimentalen Menschheitsgedanken statt zur kriegerischen Rache am Erbfeind erzogen werde.
»Bist du das?« fragte Hermine und zeigte auf meinen Namen. »Nun, da hast du dir ordentlich Feinde gemacht, Harry. Ärgert es dich?«
Ich las einige Zeilen, es war das Gewohnte, jedes einzelne dieserklischierten Schmähworte war mir seit Jahren bis zum Überdruß
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