Der Steppenwolf
gestarrt hatten. Oh, darin war Hermine wie das Lebenselbst: stets nur Augenblick, nie im voraus zu berechnen. Jetzt aß sie, und das Entenbein und der Salat, die Torte und der Likör wurden ernst genommen, wurden zum Gegenstand von Freude und Urteil, von Gespräch und Phantasie. War der Teller weggetragen, so begann ein neues Kapitel. Diese Frau, die mich so vollkommen durchschaut hatte, die mehr über das Leben zu wissen schien als alle Weisen, betrieb das Kindsein, das kleine Lebensspiel des Augenblicks mit einer Kunst, die mich ohne weiteres zu ihrem Schüler machte. Mochte das nun hohe Weisheit sein oder einfachste Naivität: wer so dem Augenblick zu leben verstand, wer so gegenwärtig lebte und so freundlichsorgsam jede kleine Blume am Weg, jeden kleinen spielerischen Augenblickswert zu schätzen wußte, dem konnte das Leben nichts anhaben. Und dieses frohe Kind mit seinem guten Appetit, mit seiner spielerischen Feinschmeckerei sollte zugleich eine Träumerin und Hysterikerin sein, die sich den Tod wünschte, oder eine wachsame Rechnerin, die mich bewußt und kühlen Herzens verliebt und zu ihrem Sklaven machen wollte? Das konnte nicht sein. Nein, sie war einfach so ganz dem Augenblick ergeben, daß sie, ebenso wie jedem lustigen Einfall, auch jedem flüchtigen dunklen Schauer aus fernen Seelentiefen her offenstand und ihn sich ausleben ließ.
Diese Hermine, die ich heut zum zweiten Male sah, wußte alles von mir, es schien mir nicht möglich, je vor ihr ein Geheimnis zu haben. Es mochte sein, daß sie mein geistiges Leben vielleicht nicht ganz verstanden hätte; in meine Beziehungen zur Musik, zu Goethe, zu Novalis oder Baudelaire vermöchte sie mir möglicherweise nicht zu folgen – aber auch dies war sehr fraglich, wahrscheinlich würde auch dies ihr keine Mühe machen. Und wenn auch – was war denn von meinem »geistigen Leben« noch übrig? Lag das nicht alles in Scherben und hatte seinen Sinn verloren? Aber meine anderen, meine persönlichsten Probleme und Anliegen, die würde sie alle verstehen, daran zweifelte ich nicht. Bald würde ich mit ihr über den Steppenwolf, über den Traktat, über alles und alles reden, was bisher nur für mich allein existiert, worüber ich nie mit einem Menschen ein Wort gesprochen hatte. Ich konnte nicht widerstehen, gleich zu beginnen.
»Hermine«, sagte ich, »mir ist neulich etwas Wunderliches begegnet.Da gab ein Unbekannter mir ein kleines gedrucktes Büchlein, ein Ding wie ein Jahrmarktsheft, und darin stand meine ganze Geschichte und alles, was mich angeht, genau beschrieben. Sag, ist das nicht merkwürdig?«
»Wie heißt denn das Büchlein?« fragte sie leichthin.
»Es heißt ›Traktat vom Steppenwolf‹.«
»O, Steppenwolf ist großartig! Und der Steppenwolf bist du? Das sollst du sein?«
»Ja, ich bin es. Ich bin einer, der halb ein Mensch ist und halb ein Wolf, oder der sich das einbildet.«
Sie gab keine Antwort. Sie sah mir mit forschender Aufmerksamkeit in die Augen, sah auf meine Hände, und für einen Moment kam in ihren Blick und ihr Gesicht wieder der tiefe Ernst und die düstere Leidenschaftlichkeit von vorhin. Ich glaubte, ihre Gedanken zu erraten, ob ich nämlich Wolf genug sei, um ihren »letzten Befehl« vollziehen zu können.
»Es ist natürlich eine Einbildung von dir«, sagte sie, sich zurück ins Heitere wandelnd, »oder, wenn du willst, eine Poesie. Aber es hat etwas. Heute bist du kein Wolf, aber neulich, wie du da in den Saal hereinkamst, wie vom Mond gefallen, da warst du schon so ein Stück Bestie, gerade das hat mir gefallen.«
Sie unterbrach sich mit einem plötzlichen Einfall und sagte wie betroffen: »Das klingt so dumm, so ein Wort wie ›Bestie‹ oder ›Raubtier‹! Man sollte nicht so von den Tieren reden. Sie sind ja oft schrecklich, aber sie sind doch viel richtiger als die Menschen.«
»Was ist ›richtig‹? Wie meinst du das?«
»Nun, sieh dir doch ein Tier an, eine Katze, einen Hund, einen Vogel oder gar eins von den schönen großen Tieren im Zoologischen, einen Puma oder eine Giraffe! Du mußt doch sehen, daß sie alle richtig sind, daß gar kein einziges Tier in Verlegenheit ist oder nicht weiß, was es tun und wie es sich benehmen soll. Sie wollen dir nicht schmeicheln, sie wollen dir nicht imponieren. Kein Theater. Sie sind, wie sie sind, wie Steine und Blumen oder wie Sterne am Himmel. Verstehst du?«
Ich verstand.
»Meistens sind Tiere traurig«, fuhr sie fort. »Und wenn ein Mensch sehr traurig ist, nicht
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