Der Steppenwolf
als sein Manuskript, das er während seines hiesigen Aufenthaltes geschrieben hat und das er mit wenigen Zeilen mir zueignete, mit dem Bemerken, ich könne damit machen, was ich wolle.
Es war mir nicht mö glich, die Erlebnisse, von denen Hallers Manuskript erzählt, auf ihren Gehalt an Realität nachzuprüfen. Ich zweifle nicht daran, daß sie zum größten Teil Dichtung sind, nicht aber im Sinn willkürlicher Erfindung, sondern im Sinne eines Ausdrucksversuches, der tief erlebte seelische Vorgänge im Kleide sichtbarer Ereignisse darstellt. Die zum Teil phantastischen Vorgänge in Hallers Dichtung stammen vermutlich aus der letzten Zeit seines hiesigen Aufenthaltes, und ich zweifle nicht daran, daß ihnen auch ein St ück wirklichen, äußeren Erlebens zugrunde liegt. In jener Zeit zeigte unser Gast in der Tat ein verändertes Benehmen und Aussehen, war sehr viel außer Hause, zuweilen auch ganze Nächte, und seine Bücher lagen unberührt. Die wenigen Male, die ich ihn damals antraf, schien er auffallend lebendig und verjüngt, einige Male geradezu vergnügt. Gleich darauf folgte allerdings eine neue schwere Depression, er blieb tagelang im Bett, ohne Essen zu begehren, und in jene Zeit fiel auch ein außerordentlich heftiger, ja brutaler Zank mit seiner wieder aufgetauchten Geliebten, der das ganze Haus revoltierte und für welchen Haller tags darauf meine Tante um Entschuldigung gebeten hat.
Nein, ich bin davon überzeugt, daß er sich nicht das Leben genommen hat. Er lebt noch, er geht irgendwo auf seinen müden Beinen die Treppen fremder Häuser auf und ab, starrt irgendwo auf blankgescheuerte Parkettböden und auf sauber gepflegte Araukarien, sitzt Tage in Bibliotheken und Nächte in 17
Wirtshäusern oder liegt auf einem gemieteten Kanapee, hört hinter den Fenstern die Welt und die Menschen leben und weiß sich ausgeschlossen, tötet sich aber nicht, denn ein Rest von Glaube sagt ihm, daß er dies Leiden, dies böse Leiden in seinem Herzen zu Ende kosten und daß dies Leiden es sei, woran er sterben müsse. Ich denke oft an ihn, er hat mir das Leben nicht leichter gemacht, er hatte nicht die Gabe, das Starke und Frohe in mir zu stützen und zu fördern, oh, im Gegenteil! Aber ich bin nicht er, und ich führe nicht seine Art von Leben, sondern das meine, ein kleines und bürgerliches, aber gesichertes und von Pflichten erfülltes. Und so können wir seiner in Ruhe und Freundschaft denken, ich und meine Tante, welche mehr über ihn zu sagen wüßte als ich, aber das bleibt in ihrem gütigen Herzen verborgen.
Was nun die Aufzeichnungen Hallers betrifft, diese wunderlichen, zum Teil krankhaften, zum Teil schönen und gedankenvollen Phantasien, so muß ich sagen, daß ich diese Blätter, wären sie mir zufällig in die Hand gefallen und ihr Urheber mir nicht bekannt gewesen, gewiß entrüstet weggeworfen hätte. Aber durch meine Bekanntschaft mit Haller ist es mir möglich geworden, sie teilweise zu verstehen, ja zu billigen. Ich würde Bedenken tragen, sie anderen mitzuteilen, wenn ich in ihnen bloß die pathologischen Phantasien eines einzelnen, eines armen Gemütskranken sehen würde. Ich sehe in ihnen aber etwas mehr, ein Dokument der Zeit, denn Hallers Seelenkrankheit ist — das weiß ich heute —
nicht die Schrulle eines einzelnen, sondern die Krankheit der Zeit selbst, die Neurose jener Generation, welcher Haller angehört, und von welcher keineswegs nur die schwachen und minderwertigen Individuen befallen scheinen, sondern gerade die starken, geistigsten, begabtesten.
Diese Aufzeichnungen — einerlei, wie viel oder wenig realen Erlebens ihnen zugrunde liegen mag — sind ein Versuch, die große Zeitkrankheit nicht durch Umgehen und Beschönigen zu überwinden, sondern durch den Versuch, die Krankheit selber zum Gegenstand der Darstellung zu machen. Sie bedeuten, ganz wörtlich, einen Gang durch die Hölle, einen bald angstvollen, bald mutigen Gang durch das Chaos einer verfinsterten Seelenwelt, gegangen mit dem Willen, die Hölle zu durchqueren, dem Chaos die Stirn zu bieten, das Böse bis zu Ende zu erleiden.
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Ein Wort Hallers hat mir den Schlüssel zu diesem Verständnis gegeben. Er sagte einmal zu mir, nachdem wir über sogenannte Grausamkeiten im Mittelalter gesprochen hatten: «Diese Grausamkeiten sind in Wirklichkeit keine. Ein Mensch des Mittelalters würde den ganzen Stil unseres heutigen Lebens noch ganz anders als grausam, entsetzlich und barbarisch verabscheuen! Jede Zeit, jede
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