Der Strandlaeufer
leer. Fürchtet er, dass der Tod, der jetzt das einzige Abenteuer geblieben ist, das er noch vor sich hat, von der gleichen Leere sein wird?
Wieder bleibt er stehen. Diesmal sind es eine halb im Schnee versunkene Futterrübe und die Abdrücke von Tierpfoten. Er deutet darauf und sagt: eine Katze.
Dann rennt er weiter, ein kleiner, uralter Junge. Kann man ihn mit einem Fluss vergleichen, der an den Ufern des Lebens vorbeiströmt? Doch es gibt keine Strömung, nur aufgewühlte, kabbelige See. »Er ist kein Fluss, der von der Quelle zur Mündung, von Geburt zum Tod fließt«, denkt der Sohn, »sondern ein winziges Binnenmeer, über das ein Orkan fegt. Ich spüre es, wenn ich mich, was selten geschieht, traue, ihm über die Haare zu streicheln, wenn ich beim Fernsehen hinter ihm auf der gepolsterten Bank sitze. Dass er so störrisch ist, so dickköpfig, dass er immer betont, keine Phantasie zu haben, sein ganzer simpler Rationalismus, all das ist die Folge eines Lebens, das zwar großenteils auf hoher See stattfand und ihn um den ganzen Erdball führte, das jedoch nie seine Enge verlor. Der Widerspruch dieser inneren Enge und der äußeren Weite hat ihn wohl so misstrauisch, störrisch und empfindlich gemacht.«
Weiter geht es durch den Schnee, als ob sie sich dem Südpol nähern. Amundsen gegen Scott. Der Sohn bemerkt, dass es sein Vater vermeidet, in alte Spuren zu treten. Er bevorzugt den jungfräulichen Schnee. Ist vielleicht doch etwas von einem Entdecker in ihm? Sind sein furchtbarer Rationalismus, den er bei jeder Gelegenheit betont, sein verstockter Unglaube, was Wunder anbelangt, sein Misstrauen gegenüber jeglicher Phantasie so etwas wie eine Schutzmauer, in deren Windschatten er immer noch auf das eigentliche Wunder des wahren Lebens wartet? Gehört er zu den Betrogenen, denen man die innere Moral genommen hat und die darum die Betrüger verehren? Eltern, Schule, Führer, Vaterland, Ehefrau, alles Bestien, die sich über seine ehemals kleine, weiche Knabenseele hergemacht haben, um sie nach eigenem Gutdünken zu formen? Ist er dabei formlos geworden, knetbar, er, den seine Kollegen in den Kriegsjahren während seiner Zeit als Schiffsführer den ›Mann von Stahl und Eisen‹ nannten?
Gewiss, auch seine Frau lebt in einem Gefängnis, aber sie ist in einer völlig anderen Rolle. Ihr Mann ist der Häftling, sie ist die Aufseherin. Beide sind sie aneinander gekettet, beide genießen sie ihre Unfreiheit wie Irre, die die Angst vor der endlosen Weite des Daseins in eine finstere Ecke ihres Hauses treibt. Dabei hat die Mutter des Sohnes eigentlich eine panische Angst vor der Enge, die sie doch so zu lieben scheint. Wenn sie auf die Toilette geht, lässt sie ungeniert die Tür offen stehen. Oder vielleicht will sie einfach nur alles kontrollieren, was in ihrem Kosmos vor sich geht. Die Rituale in diesem Haus sind wie Gitterstäbe, die jeder Eisensäge widerstehen.
Bevor der Sohn morgens in die Küche geht, um sich sein Frühstück zu machen wie ein Delinquent, der das Verbrechen begangen hat zu träumen, muss er ins elterliche Schlafzimmer, um guten Morgen zu sagen. Der Vater sitzt auf dem Damensesselchen, die Stoffschürze zwischen den Beinen, und liest die Zeitung. Er hat seiner Frau zuvor das Frühstück auf einem Tablett ans Bett gebracht. Sie liegt halb aufgerichtet mit dicken Kissen im Rücken und starrt dem Sohn mit ihren braunen, stark hervorquellenden Augen entgegen. Es sind Insektenaugen mit zahllosen Facetten. Er beugt sich widerwillig zu ihr hinab und gibt ihr einen Kuss auf die feuchte, kalte Stirn. Wieder dieser Geruch. Genießt sie es, bei denen Ekelgefühle zu wecken, die es nicht zugeben dürfen? Die zur Mannes- oder Sohnesliebe verurteilt sind? Sie weiß genau: etwas nicht zugeben dürfen macht schwach, macht feige, macht unehrlich. Eine teuflische Art, jemanden zu besiegen, ihn in solche Widersprüche zu treiben. Ekel und geheuchelte Liebe, wie gut ergänzen sie sich!
Der Sohn fühlt, wie er in dieser grauenhaften Innenwelt von Tag zu Tag schwächer wird. Verdächtige Symptome stellt er an sich fest, wie die wachsende Gier, Illustrierte zu lesen, auf dem Klo, im Bett, schließlich sogar im Stehen. Mord und Totschlag in der Welt. Lüsterne Blicke auf die Zerstörung, auf verstümmelte Bombenopfer, nackte Frauenleichen. Ihm ist merkwürdig wohl dabei. Er weiß, dass er immer weiter in die Ecke des Ringes getrieben wird, förmlich gegen die Seile gepresst. Seine Mutter steht vor ihm, holt
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