Der Strandlaeufer
Heimkehr des verlorenen Vaters und verlorenen Sohnes ins mütterliche braten- und apfelduftende Paradies.
Als sie diesmal von ihrem Spaziergang zurückkommen, ist der Sohn vollkommen erschöpft. Sie trinken im Wohnzimmer Tee, und wie immer findet eine Art Verhör statt. Seine Mutter im Ohrensessel fragt sie nach ihren Erlebnissen aus. Aber da sie nichts erlebt, nicht einmal ungewöhnliche Spuren gesehen haben, zählt der Vater nur unwirsch die geographischen Stationen ihres Marsches auf. Dann nimmt er ein Buch zur Hand und liest daraus vor. Der Sohn hat es früher geliebt, ihm zuzuhören. In seiner Kindheit hat der Vater an Weihnachten, sofern er Urlaub hatte und zu Hause war, die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorgelesen. »Es begab sich aber zu der Zeit...« Auch Szenen aus dem Faust: »Habe nun ach...« Ewige, in die Tafel der Stille gemeißelte Sätze. Der Vater hatte schon damals eine schöne, ruhig dahinfließende Stimme. Vielleicht hat sie einst die Liebe des Sohnes zur Literatur geweckt. Jetzt fällt ihm auf, wie rau und belegt diese Stimme geworden ist, wie schwer es ihm fällt ihr zuzuhören. Man muss sich dabei beständig räuspern. Es ist eine Stimme unter Druck. Sie quält sich mit ihrer Last durch den Raum. Welche Last aber ist es? Bestimmt nicht die des Gewichts der vorgelesenen Sätze. Liegt es an den beständigen, eingeübten, zelebrierten und akzeptierten Missverständnissen zwischen seinen Eltern? Traut diese Stimme ihren eigenen Worten nicht? Der Vater liest vor, was er tags zuvor aufgeschrieben hat. Es ist ein Text aus der Familienchronik, die er vor einiger Zeit begonnen hat zu schreiben. Es geht um seinen Großvater und dessen drei Söhne John, Arndt und Edmund, von denen der eine jung auf See geblieben ist, der andere taub war und ein Genie, und der dritte, sein Vater, der Großvater des Sohnes, geschäftstüchtig und lebensfroh war. Innerlich betet der Sohn um jede Minute, dass sie so schnell wie möglich vorbeigeht. Ein Schweißfilm bildet sich auf seiner Stirn. Früher hat er in solchen Situationen zuweilen versucht, eine Position der Wahrhaftigkeit, der Kritik zu beziehen, und sei es auch nur am Wetter. Jedes Mal hatte es in einer Katastrophe geendet. Ehrlichkeit ist hier unerwünscht. Sie wäre ein terroristischer Anschlag. Der Sohn starrt den Teppich an wie ein Ertrinkender den Meeresgrund. Auch er wäre jetzt am liebsten auf See geblieben wie einst Großonkel John.
Gott sei Dank beginnt bald die Fernsehzeit. Sie reicht von sechs bis zehn Uhr. Auch sein Vater setzt eine Sonnenbrille auf. Sie verschandelt sein schönes Seemannsgesicht. Und so hocken diese beiden an den Gestaden des Alters Gestrandeten und von allen guten Geistern verlassenen Schiffbrüchigen des Lebens vor dem viereckigen Fenster des Apparates und halten Ausschau, als würde dort auf der Mattscheibe bald ein rettendes Segel erscheinen.
Mord und Totschlag in den Abendnachrichten. Sie essen belegte Brote. Der Sohn sitzt schräg hinter seinem Vater auf der gepolsterten Bank und legt zuweilen vorsichtig seine Hand auf dessen Schulter. Dann Mord und Totschlag im Fernsehkrimi. Der Sohn weiß, dass das geringste Wort einer Kritik seinerseits an den Sendungen den Vater zum wütenden Verlassen des Raumes veranlassen wird. Also lobt er hin und wieder mit leiser und verkrümmter Stimme, was auf dem Bildschirm vor sich geht. Außerdem hat er ein schlechtes Gewissen, denn er hatte an den Einstelltasten des Apparates gespielt mit der Folge, dass Kanal Zwei jetzt nicht mehr unter der Leuchtziffer Zwei kommt, sondern bei der Sechs. Als es der Vater merkt, ist er verstimmt. Der Sohn spürt, dass jetzt ein einziges falsches Wort genügt, und der Vater würde explodieren. Aber diesmal geht alles gut. Der Vater scheint die ungewohnte Sechs auf der Anzeige zu akzeptieren. Es ist kein Moment zu früh, denn seine Frau führt bereits den Sketch auf, mit dem sie ihren Mann Abend für Abend beim Fernsehen reizt. Sie drückt die Lautstärketaste der Fernbedienung und macht den Ton immer lauter, bis er in den Ohren schmerzt. Seit Jahren dichtet sie ihrem Mann Schwerhörigkeit an. Und immer reagiert er gleich, indem er sagt, sie solle leiser machen. Der Sohn ruft dazwischen, der Vater sei doch gar nicht schwerhörig. Sie macht den Ton daraufhin noch lauter. Der Vater verlässt den Sessel und geht hinaus. Ihr Kommentar: »Man darf deinen Vater auf Fehler nicht ansprechen, mein Sohn. Er wird eine Schwäche niemals zugeben. Das ist eine Krankheit
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