Der süße Hauch von Gefahr
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Von seinem Versteck in der Nähe des prächtigen Stadthauses des Marquis of Ormsby am Grosvenor Square aus verfolgte Asher Cordell das Kommen und Gehen der vielen eleganten Kutschen, die sich auf der Straße vor dem hell erleuchteten Gebäude drängten. Alle Mitglieder der guten Gesellschaft, die Ende Juni noch in der Stadt weilten und zudem das Glück gehabt hatten, eine Einladung zu Lord Ormsbys jährlichem Maskenball zu erhalten, waren heute Abend hier versammelt. Vor über zwei Jahrzehnten hatte Lord Ormsby mit diesem Maskenball begonnen, und mit der Zeit wurde er zum Signal dafür, dass die Saison vorüber war. Nach diesem Abend würde sich der Großteil der vornehmen Gesellschaft bis in die entferntesten Ecken des Königreiches zerstreuen, um den Rest des Sommers auf ihren jeweiligen Landsitzen zu verbringen.
Nach Londoner Standards war es noch früh, kaum Mitternacht, und Asher entschied, dass er genug Zeit verschwendet hatte, sich zu vergewissern, dass alles so ablief, wie es sollte. Die Aufgabe, die er heute Nacht bewältigen wollte, war nicht sonderlich schwer. Es war ein einfacher Einbruch mit Diebstahl – für ihn ein Kinderspiel. Er hatte schon zwei Probeläufe unternommen und war – davon war er überzeugt – in der Lage, selbst mit verbundenen Augen ohne Schwierigkeiten seinen Weg über die Gartenmauer auf der Rückseite des Gebäudes und dann durch die für Londoner Maßstäbe ausgedehnten Gärten in Lord Ormsbys Bibliothek zu finden. Am Vorabend hatte er während des letzten Übungsganges mitten in der dunklen Bibliothek des Hausherrn gestanden und flüchtig erwogen, gleich da das berühmte Ormsby Diamanten-Halsband zu stehlen. Letztlich hatte er sich jedoch dagegen entschieden. Aus einer Laune heraus einen Plan zu ändern konnte, so hatte er am eigenen Leibe erfahren, fatale Komplikationen nach sich ziehen.
Im Schatten seines Versteckes verzog Asher das Gesicht. Himmel! Die Ereignisse im vergangenen Frühling auf Sherbrook Hall hatten das eindrucksvoll bewiesen, und er fragte sich unwillkürlich, ob das Endergebnis anders gewesen wäre, wenn er an seinem ursprünglichen Plan festgehalten hätte. Er seufzte. Vermutlich nicht. Collard hatte nichts Gutes im Schilde geführt; es ließ sich nicht sagen, wie es ausgegangen wäre. Schlimm genug, dass Collard diesen unangenehmen Wicht Whitley umgebracht hatte. Schlimm genug, dass er selbst Collard erschossen hatte, auch wenn er es aus Notwehr hatte tun müssen.
Er schüttelte die Erinnerung ab und konzentrierte sich auf die Aufgabe vor ihm. Dies würde sein letzter Diebstahl sein, rief er sich ins Gedächtnis, das letzte Mal, dass er so ein Risiko auf sich nahm. Nach dieser Nacht würde er sich nach Kent zurückziehen und seine Tage damit verbringen, die Leitung seiner Besitzungen zu übernehmen und endlich der angesehene und allseits geachtete wohlhabende Grundbesitzer zu werden, für den ihn alle Welt bereits hielt.
Eifrig darauf bedacht, die Vergangenheit hinter sich zu lassen, wollte er gerade um die Ecke auf die Rückseite des Gebäudes schlüpfen, als er den letzten Wagen erkannte, der soeben vor Ormsbys Türen anhielt. Das Gefährt war schon in die Jahre gekommen und wurde von vier wenig beeindruckenden Braunen gezogen, aber sobald es zum Stehen kam, nahmen die herumstehenden Gentlemen in ihrer makellosen Abendkleidung Haltung an, als seien königliche Herrschaften eingetroffen.
Asher musste grinsen. Wer hätte je gedacht, dass die achtzehnjährige Thalia Kirkwood London im Sturm erobern würde? In den vergangenen Monaten waren immer wieder Gedichte auf ihre Schönheit verfasst worden. Ihretwegen erlebten die Blumenstände in ganz London einen Aufschwung, weil ihre eifrigen Bewunderer sich darin zu übertreffen suchten, duftende farbenfrohe Blütenbouquets in das verhältnismäßig bescheidene Haus gleich neben dem Cavendish Square zu senden, das ihr Vater, der eher zurückhaltende Mr Kirkwood, für die Saison gemietet hatte. Man sagte, dass mindestens ein Duell wegen der reizenden Thalia ausgefochten worden war, und die Gerüchteküche behauptete, ihr Vater habe seit Mai wenigstens ein Dutzend Heiratsanträge abgelehnt – allesamt von in jeder Hinsicht infrage kommenden, liebeskranken Herren, einige davon sogar mit Aussicht auf einen Titel. Mit unverhohlenem Missfallen und mit langen Gesichtern hatten viele junge Männer zur Kenntnis nehmen müssen, dass die Wetten in den Herrenclubs im Moment dafür standen, dass, noch bevor die
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