Der Tag der Ameisen
grün-schwarz-weiß behaarte Raupe entfernt sich von der Libelle, die ihr rät, sich vor den Ameisen in acht zu nehmen, und begibt sich ganz ans Ende des Eschenzweiges.
Mit Kriech-und Wellenbewegungen gleitet sie dahin. Erst setzt sie ihre sechs Vorderbeine auf. Ihre sechs Hinterbeine schließen sich dank der Krümmungen an, die sie mit ihrem Körper macht.
Am Ende ihres Ausgucks angekommen, spuckt die Raupe ein bißchen Klebespeichel aus, um ihr Hinterteil zu befestigen, und läßt sich mit dem Kopf nach unten fallen.
Sie ist sehr müde. Sie ist mit ihrem Leben als Larve fertig.
Ihre Leiden haben ein Ende. Jetzt heißt es Verwandlung oder Tod.
Pst!
Sie mummelt sich in einen Kokon aus einem festen, aber feinen Kristallfaden ein.
Ihr Körper wird zu einem Zauberkessel.
Auf diesen Tag hat sie lange, lange gewartet. So lange.
Der Kokon wird hart und weiß. Der Wind wiegt diese seltsame helle Frucht.
Einige Tage später bläst der Kokon sich auf, als wollte er gleich einen Seufzer ausstoßen. Seine Atmung wird regelmäßiger. Er bebt. Es vollzieht sich eine ganze Alchimie.
In ihm mischen sich Farben, seltene Zutaten, zarte Aromen, überraschende Düfte, Säfte, Hormone, Lacke, Fette, Säuren, Fleisch und sogar Krusten. Alles wird angepaßt, mit unvergleichlicher Genauigkeit zugemessen, mit dem Ziel, ein neues Wesen herzustellen. Und dann platzt die Schale oben auf. Aus der Silberhülle taucht schüchtern eine Antenne auf und entrollt ihre Spirale.
Die Silhouette, die sich aus der Grabwiege löst, hat nichts mehr mit der Raupe gemein, aus der sie hervorgegangen ist.
Eine Ameise, die in der Gegend herumgestreunt ist, hat diesen heiligen Augenblick beobachtet. Zunächst von der Pracht dieser Verwandlung hingerissen, kommt sie bald zur Vernunft und ruft sich ins Gedächtnis, daß es sich nur um ein Stück Wild handelt. Sie galoppiert auf den Ast, um das wunderbare Tier zu töten, ehe es sich aus dem Staub macht.
Der feuchte Körper des Falters löst sich ganz aus dem Ei seines Ursprungs. Die Flügel gehen auf. Prächtige Farben.
Schillern der leichten, zerbrechlichen und zugespitzten Flügel.
Dunkle Zackenmuster, aus denen unbekannte Farbtöne hervor-stechen: fluoreszierendes Gelb, mattes Schwarz, leuchtendes Orange, Karmesinrot, Zinnoberrot und Perlmuttanthrazit.
Die Jägerin schwenkt ihren Hinterleib unter ihrem Thorax, um sich in Schußposition zu stellen. Mit ihrem Geruch und ihrem Gesichtssinn nimmt sie den Schmetterling aufs Korn.
Der Falter bemerkt die Ameise. Er ist gebannt von der Spitze des Hinterleibs, die auf ihn zielt, weiß jedoch, daß von dort der Tod spritzen kann. Er will ganz und gar noch nicht sterben.
Nicht jetzt. Das wäre wirklich schade.
Vier kugelrunde Augen starren einander an.
Die Ameise betrachtet den Schmetterling. Er ist zwar hinreißend, aber die Eier müssen mit Fruchtfleisch versorgt werden. Nicht alle Ameisen sind Vegetarierinnen, weit gefehlt.
Diese hier ahnt, daß ihre Beute sich zum Abheben bereit macht, und nimmt deren Bewegung vorweg, indem sie ihr Schußorgan zeigt. Der Schmetterling nutzt diesen Augenblick, um sich in die Lüfte zu erheben. Der fehlgeleitete Säurestrahl durchbohrt seine Schwingen und bildet dort ein kleines, vollkommen rundes Loch.
Der Schmetterling verliert ein wenig an Höhe, das Loch in seinem rechten Flügel läßt ein Pfeifen durch. Die Ameise ist eine Eliteschützin und sich sicher, ihn getroffen zu haben.
Doch der Falter erhebt sich dennoch in die Lüfte. Seine noch feuchten Flügel trocknen bei jedem Schlag ein bißchen mehr.
Er gewinnt an Höhe, erkennt unten seinen Kokon, ganz ohne Wehmut.
Die Jägerin liegt immer noch auf der Lauer. Noch ein Schuß.
Ein Blatt schiebt sich vor das tödliche Projektil wie von einer Brise des Schicksals bewegt. Der Schmetterling weicht mit den Flügeln aus und fliegt munter fort.
Die Soldatin Nr. 103 683 aus Bel-o-kan hat danebenge-schossen. Ihr Ziel ist nunmehr außer Reichweite. Verträumt betrachtet sie den fliegenden Falter und beneidet ihn einen Augenblick lang. Wohin er wohl zieht? Er scheint sich in Richtung Ende der Welt zu bewegen.
Tatsächlich verschwindet der Falter gen Osten. Er fliegt schon seit mehreren Stunden, und da der Himmel grau zu werden beginnt, entdeckt er in der Ferne ein Licht und stürzt sich sofort darauf.
Er ist wie gebannt und hat nur noch ein Ziel: zu dieser sagenhaften Helle zu kommen. Nachdem er in höchster Eile bis auf ein paar Zentimeter an die Lichtquelle
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