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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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Verkehrsunfall mit Fahrerflucht umgekommen, Jack.«
    Er keuchte; ihm war, als wäre ihm die Luft aus den Lungen gerissen worden.
    »Er überquerte den La Cienega Boulevard, und ein Lieferwagen fuhr ihn an. Es gibt einen Zeugen, der ausgesagt hat, er wäre schwarz gewesen und hätte die Aufschrift WILD CHILED getragen, aber das war – das war alles.«
    Lily begann zu weinen. Einen Augenblick später begann Jack, fast überrascht, gleichfalls zu weinen. All das war vor drei Tagen passiert, und Jack kamen diese drei Tage vor wie eine Ewigkeit.
     
    5
     
    Am 15. September 1981 stand ein Junge namens Jack Sawyer auf einem unmarkierten Stück Strand vor einem Hotel, das aussah wie eine Burg aus einem Roman von Walter Scott, und blickte auf das stetige Meer hinaus. Er wollte weinen, konnte aber seinen Tränen keinen Lauf lassen. Er war vom Tod umgeben, die halbe Welt bestand aus Tod, es gab keine Regenbogen. Der WILD CHILD-Lieferwagen hatte Onkel Tommy aus der Welt befördert. Onkel Tommy, tot in Los Angeles, zu weit von der Ostküste entfernt, wo er, wie selbst ein Junge wie Jack wusste, von Rechts wegen hingehörte. Ein Mann, der sich eine Krawatte umbinden musste, bevor er zu Arby’s ging und sich ein Roastbeef-Sandwich holte, hatte an der Westküste nicht das mindeste zu suchen.
    Sein Vater war tot. Onkel Tommy war tot. Auch seine Mutter würde vielleicht sterben. Er spürte den Tod auch hier, in Arcadia Beach, wo er mit Onkel Morgans Stimme durchs Telefon sprach. Nichts war so wohlfeil und offenkundig wie die Melancholie, die von einem Badeort außerhalb der Saison ausging, in dem man ständig über die Gespenster vergangener Sommer stolperte; es schien in der Anordnung der Dinge zu stecken, ein Geruch in der Meeresbrise zu sein. Er hatte Angst – er hatte seit langer Zeit Angst. Hier zu sein, wo alles so still war, hatte ihm nur geholfen, sich darüber klarzuwerden; es hatte ihm geholfen, zu begreifen, dass vielleicht der Tod die ganze Strecke auf der Interstate 95 von New York mitgefahren war, durch Zigarettenrauch geblinzelt und ihn gebeten hatte, im Autoradio ein bisschen Bebop zu suchen.
    Er erinnerte sich – ganz vage –, dass sein Vater einmal gesagt hatte, er wäre mit einem alten Kopf geboren worden, aber jetzt kam ihm sein Kopf nicht alt vor. Im Augenblick kam er ihm sogar sehr jung vor. Angst, dachte er. Ich habe entsetzliche Angst. Hier kommt das Ende der Welt.
    Möwen kreisten am grauen Himmel über ihm. Die Stille war so grau wie die Luft – so tödlich wie die dunkler werdenden Ringe unter ihren Augen.
     
    6
     
    Seit er nach einer Reihe von Tagen benommenen Drittens durch die Zeit in die Funworld gewandert und Lester Speedy Parker begegnet war, hatte ihn dieses passive Gefühl des Gefangenseins irgendwie verlassen. Lester Parker war ein Schwarzer mit krausem grauem Haar und faltigen Wangen. Er war nicht im Mindesten bemerkenswert, obwohl er in seinem früheren Leben als wandernder Bluesmusiker einiges geleistet haben mochte. Er hatte auch nichts sonderlich Bemerkenswertes gesagt. Und dennoch hatte Jack, der ziellos in die Spielarkade von Funworld hineingewandert war und in Speedys blasse Augen geblickt hatte, gespürt, wie die ganze Benommenheit von ihm wich. Er war wieder er selbst geworden. Es war, als wäre eine magische Strömung von dem alten Mann auf Jack übergegangen. Speedy hatte gelächelt und gesagt: »Sieht aus, als bekäme ich jetzt ein bisschen Gesellschaft. Der kleine Wanderer ist da.«
    Es stimmte, er war nicht mehr gefangen; noch eine Sekunde zuvor hatte er das Gefühl gehabt, in nasse Wolle und Zuckerwatte eingehüllt zu sein, und nun war er frei. Einen Augenblick lang schien ein silberner Nimbus den alten Mann zu umspielen, eine Aureole aus Licht, die verschwand, sobald Jack blinzelte. Zum ersten Mal bemerkte Jack, dass der Mann den Stiel eines breiten, schweren Besens hielt.
    »Na, Junge, wie geht’s?« Der alte Mann legte eine Hand ins Kreuz und streckte sich nach hinten. »Ist die Welt gerade schlechter geworden oder vielleicht besser?«
    »Oh, besser«, sagte Jack.
    »Dann bist du an der richtigen Stelle, würde ich sagen. Wie heißt du?«
    Kleiner Wanderer, hatte Speedy an jenem ersten Tag gesagt, Travelling Jack. Er hatte seinen hochgewachsenen, kantigen Körper gegen den Skee-Ball-Automaten gelehnt und die Arme um den Besenstiel geschlungen, als wäre er ein Mädchen beim Tanz. Der Mann, den du hier vor dir siehst, ist Lester Speedy Parker, ein Mann, der früher selbst

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