Der Talisman
lebendig wie die Vögel, so lebendig wie die Welten im Talisman hörte er das Schmettern von Posaunen, Trompeten und Saxophonen; den Chor von Fröschen und Schildkröten und Tauben, die sangen: »Wer meinen Zauber kennt, erfüllt das Land mit Rauch«; er hörte die Stimmen von Wölfen, die ihre Wolfsmusik zum Mond schickten. Wasser schwappte gegen den Bug eines Schiffes, und ein Fisch schwappte aus der Oberfläche eines Sees heraus, und ein Regenbogen schwappte auf die Erde, und ein wandernder Junge schwappte einen Tropfen Speichel, der ihm sagen sollte, in welche Richtung er gehen musste; und dann kam die gewaltige Stimme eines Orchesters, das mit seinem ganzen, massigen Herzen sang; der Raum füllte sich mit dem rauchigen Klang einer einzigen Stimme, die sich immer höher über diese unendliche Vielzahl von Geräuschen erhob. Das Getriebe von Lastwagen knirschte, Fabriksirenen heulten, irgendwo platzte ein Reifen, irgendwo knatterte laut ein Knallfrosch, ein Liebender flüsterte noch einmal, ein Kind schrie auf, und die Stimme hob sich höher und höher, und einen Augenblick lang war sich Jack nicht bewusst, dass er nichts sehen konnte; doch dann konnte er es wieder.)
Lilys Augen öffneten sich weit. Sie blickten in Jacks Gesicht mit einem fassungslosen Wo-bin-ich-Ausdruck. Es war der Ausdruck eines neugeborenen, gerade zur Welt gekommenen Kindes. Dann holte sie tief Atem …
… und als sie es tat, stieg im Talisman ein Strom von Welten und geneigten Galaxien und Universums in die Höhe und in einem Strom von Regenbogenfarben aus ihm heraus. Sie strömten in ihren Mund und ihre Nase … sie ließen sich funkelnd auf ihrer bleichen Haut nieder wie Tautröpfchen und schmolzen in sie hinein. Einen Augenblick lang war seine Mutter in Strahlen eingehüllt …
… einen Augenblick lang war seine Mutter der Talisman.
Alles Kranke verschwand aus ihrem Gesicht. Es geschah nicht wie eine Folge von Zeitrafferaufnahmen in einem Film. Es geschah ganz plötzlich. Es geschah in einem Sekundenbruchteil. Sie war krank … und dann war sie gesund. Rosige Gesundheit blühte auf ihren Wangen. Strähniges, schütteres Haar war plötzlich üppig und glatt, hatte die Farbe von dunklem Honig.
Jack starrte sie an, als sie ihm ins Gesicht blickte.
»Oh … oh … oh, mein GOTT …« flüsterte Lily.
Das Regenbogenstrahlen verblich – aber die Gesundheit blieb.
»Mom?« Er beugte sich vor. Etwas knisterte wie Zellophan unter seinen Fingern. Es war die spröde Hülle des Talismans. Er legte sie auf den Nachttisch. Um Platz dafür zu schaffen, schob er die Medizinflaschen beiseite. Einige zersplitterten auf dem Fußboden, aber das machte nichts. Sie brauchte keine Medikamente mehr. Er legte die Hülle mit sanfter Ehrerbietung hin; er ahnte – nein, er wusste –, dass auch sie bald verschwunden sein würde.
Seine Mutter lächelte. Es war ein liebliches, zufriedenes, irgendwie überraschtes Lächeln – Hallo, Welt, hier bin ich wieder’. Wie findest du das?
»Jack, du bist nach Hause gekommen«, sagte sie endlich und rieb sich die Augen, als wollte sie sich vergewissern, dass es kein Trugbild war.
»Klar«, sagte er. Er versuchte zu lächeln. »Klar doch.«
»Ich fühle mich – wesentlich besser, Jacko.«
»Wirklich?« Er lächelte, wischte sich mit den Handballen die nassen Augen. »Das ist gut, Mom.«
Ihre Augen strahlten.
»Nimm mich in die Arme, Jacky.«
In einem Zimmer im vierten Stock eines verlassenen Ferienhotels an der Küste von New Hampshire beugte sich ein dreizehnjähriger Junge namens Jack Sawyer vor, schloss die Augen und umarmte lächelnd seine Mutter. Sein normales Leben mit Freunden, Sport und Musik, ein Leben, in dem es Schulen gab, die man besuchte, und saubere Betten, in die man sich abends legte, das normale Leben eines dreizehnjährigen Jungen (wenn man das Leben eines solchen Geschöpfes in all seiner Farbigkeit und mit all seinen Tumulten überhaupt als normal ansehen kann) war ihm, das begriff er jetzt, wiedergeschenkt worden. Auch das hatte der Talisman für ihn getan. Als ihm einfiel, sich umzuwenden und nach ihm zu sehen, war der Talisman verschwunden.
Epilog
In einem wogenden weißen Schlafzimmer voller besorgter Frauen schlug Laura DeLoessian, die Königin der Region, die Augen auf.
Schluss
So endet diese Geschichte. Da es, streng genommen, die Geschichte eines Jungen ist, muss hier Schluss sein; die Geschichte könnte nicht weitergehen, ohne zur Geschichte eines Mannes zu
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