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Der Talisman

Der Talisman

Titel: Der Talisman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen King und Peter Straub
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gewandert ist, Junge – oh ja, Speedy kannte die Straße, er kannte alle Straßen, damals in der alten Zeit. Hatte eine Band, Travelling Jack, spielte den Blues, Gitarrenblues, machte sogar ein paar Platten, will dich aber nicht mit der Frage in Verlegenheit bringen, ob du je eine davon gehört hast. Jede Silbe hatte ihre eigene Melodie und ihren eigenen Rhythmus, jeder Satz seine eigene Kadenz; Speedy Parker hielt keine Gitarre in der Hand, sondern einen Besen, aber ein Musiker war er trotzdem noch. Schon nach fünf Sekunden wusste Jack, dass sein jazzbegeisterter Vater das Zusammensein mit diesem Mann genossen hätte.
    Er hatte sich an Speedy angehängt und war ihm drei oder vier Stunden gefolgt, hatte ihm bei der Arbeit zugesehen und geholfen, wenn er konnte. Speedy ließ ihn Nägel einschlagen, ein oder zwei Zaunpfähle abschleifen, die gestrichen werden mussten; diese simplen Arbeiten, die er nach Speedys Anweisungen ausführte, waren der einzige Unterricht, den er erhielt, aber sie bewirkten, dass er sich wohler fühlte. Er empfand seine ersten Tage in Arcadia Beach jetzt als eine Periode ungemilderten Elends, von der sein neuer Freund ihn erlöst hatte. Denn Speedy Parker war ein Freund, das war gewiss – so gewiss, dass irgendein Geheimnis dahinterstecken musste. In den paar Tagen, seit Jack seine Benommenheit abgeschüttelt hatte (oder seit Speedy ihn mit einem Blick aus seinen hellen Augen davon befreit hatte), fühlte er sich Speedy Parker enger verbunden als jedem anderen Freund – ausgenommen vielleicht Richard Sloat, den er fast von der Wiege auf kannte. Und jetzt spürte er – wie ein Heilmittel gegen sein Entsetzen über Onkel Tommys Tod und seine Angst, dass auch seine Mutter sterben musste – die Anziehungskraft von Speedys Wärme und Weisheit von jenseits der Straße.
    Wieder überkam Jack das unbehagliche Gefühl, gelenkt zu werden, manipuliert zu werden; es war, als hätte ein langer, unsichtbarer Draht ihn und seine Mutter zu diesem verlassenen Ort am Meer gezogen.
    Sie wollten ihn hier haben, wer immer sie sein mochten.
    Oder war das nur eine verrückte Idee? Vor seinem inneren Auge sah er einen krummrückigen alten Mann, der eindeutig den Verstand verloren hatte und Selbstgespräche führte, während er einen leeren Einkaufswagen über den Gehsteig schob.
    Eine Möwe kreischte in der Luft, und Jack nahm sich fest vor, sich zu überwinden und über einige seiner Gefühle mit Speedy Parker zu sprechen. Selbst wenn Speedy ihn für übergeschnappt hielt; selbst wenn Speedy ihn auslachte. Aber im Innern wusste Jack, dass Speedy nicht lachen würde. Sie waren alte Freunde, denn wenn Jack etwas begriff, so war es die Tatsache, dass er Speedy fast alles erzählen konnte.
    Aber noch war er dazu nicht bereit. Alles war zu verrückt, er verstand es selbst noch nicht. Fast zögernd kehrte Jack dem Vergnügungspark den Rücken und trabte durch den Sand auf das Hotel zu.

 
Zweites Kapitel
     
    Der Trichter öffnet sich
     
    1
     
    Es war einen Tag später, aber Jack war nicht klüger geworden. Allerdings hatte er in der Nacht zuvor einen der schlimmsten Alpträume aller Zeiten gehabt. In ihm war ein grauenhaftes Geschöpf erschienen, um seine Mutter zu holen – ein zwergenhaftes Ungeheuer mit schiefen Augen und faulender, käsiger Haut. Deine Mutter ist schon fast tot, Jack, bekomme ich ein Halleluja? hatte dieses Ungeheuer gekrächzt, und Jack wusste – wie man im Traum Dinge weiß –, dass es radioaktiv war und dass auch er sterben würde, wenn es ihn berührte. Er war schweißüberströmt aufgewacht, nahe daran, einen bitteren Schrei auszustoßen. Nur das Tosen der Brandung brachte ihn dahin zurück, wo er sich wirklich befand, und es dauerte Stunden, bis er wieder einschlafen konnte.
    Er hatte vorgehabt, seiner Mutter am Morgen von dem Traum zu erzählen, aber Lily war verdrossen und nicht zu Gesprächen aufgelegt gewesen und hatte sich in einer Wolke von Zigarettenrauch eingenebelt. Erst als er den Frühstücksraum des Hotels unter irgendeinem Vorwand verlassen wollte, lächelte sie ein wenig.
    »Überleg dir, was du heute Abend essen möchtest.«
    »Ja?«
    »Ja. Irgendetwas, aber nichts vom Schnellimbiss. Ich bin nicht von L. A. nach New Hampshire gereist, um mich mit Hot Dogs zu vergiften.«
    »Wir könnten es mit einem dieser Fischrestaurants in Hampton Beach versuchen«, sagte Jack.
    »Gut. Und nun geh und spiele.«
    Geh und spiele, dachte Jack mit einer Bitterkeit, die ihm sonst völlig

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