Der Tee der drei alten Damen
beschloß, mit dem Rad in die Stadt zu fahren und bei der Dichterin Agnès Sorel zu Mittag zu essen. Das Mittagessen war nur eine Ausrede. Vor allem hoffte er, dort Natascha zu treffen.
Fräulein Sorel, die Dichterin, sah häßlicher aus als je. Ihr Gesicht war zerfurcht, dunkle Ringe umgaben ihre Augen. Sie war nicht zum Scherzen aufgelegt und gab nur einsilbige Antworten. Natascha war die ganze Nacht fortgeblieben, erzählte sie endlich, nachdem Jakob sie lange gequält hatte. Nach dem Essen sprach sie etliche Male von der vielen Arbeit, die sie heute noch zu erledigen habe. Jakob verstand, daß sie ihn los sein wollte. So verabschiedete er sich, öffnete die Flurtür, ließ sie wieder zufallen (hoffentlich kam das Fräulein nicht nachsehen, ob er wirklich fortgegangen war), dann schlich er auf den Fußspitzen in Nataschas Zimmer (Gott sei Dank, die Türe öffnete sich lautlos!), setzte sich auf einen Stuhl. Dann begann das Warten.
Dies Warten war unerträglich. Jakob konnte keinen vernünftigen Gedanken fassen. Zwei Verse und ein Satz tauchten abwechselnd in seinem Kopf auf, manchmal murmelte er sie, dann quälten sie ihn, aber wenn er sie nicht murmelte, hörte er sie dennoch deutlich. Die beiden Verse waren:
Triste, triste était mon âme
À cause, à cause d'une femme…
Und der Satz lautete:
Wer hat hölzerne Masken?
Einmal war Jakob von seinem Bruder Wladimir in dessen Laboratorium mitgenommen worden. Ein weißer Raum. Auf dem langen Tisch in der Mitte des Zimmers standen gläserne Retorten, Bunsenbrenner, Tiegel. Und was hing an den Wänden? Schnell murmelte Jakob wieder die Verse:
Triste, triste…
Er wollte nicht daran denken, was an den Wänden hing. Aber es nützte nichts, die Verse zu murmeln. Immer wieder mußte er an seinen Bruder Wladimir denken. Was war in Wladimir gefahren? War es überhaupt möglich, daß… Lieber nicht daran denken. Jakob stöhnte. Endlich hörte er es an der Flurtür läuten, dann Nataschas Stimme. Sie trat ins Zimmer, Jakob legte den Finger auf die Lippe, Natascha nickte, schloß die Türe, lauschte. Fräulein Sorels Schritte entfernten sich.
»Na, kleiner Junge«, fragte Natascha, »was willst du hier?«
»Ach, Natascha«, klagte Jakob, »ich habe solche Sehnsucht nach dir gehabt. Wo warst du so lange? Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Denk dir, ich habe da etwas gefunden…«
Natascha unterbrach ihn:
»Das interessiert mich alles nicht. Ich habe mit dir zu sprechen. Die Zeit, die wir zusammen verbracht haben, war ganz schön, vielleicht hast du etwas von mir gelernt, vielleicht auch nicht. Aber diese Zeit ist nun vorbei. Ich habe anderes zu tun. Du mußt mich verstehen. Ich mache Schluß mit allem, ich will reinen Tisch haben. Unser kleiner Flirt war rührend, aber du bildest dir doch nicht ein, daß er ewig währen wird? Also, Jakob, leb wohl, laß dir's gut gehen. Ich wünsche dir viel Glück. Aber du mußt verstehen, daß ich jetzt Wichtigeres zu tun habe.«
»Du gehst, du gehst mit dem Fürsten?« fragte Jakob. Er stand aufrecht vor seinem Stuhl, seine Stirne war stark gefurcht, was ein wenig komisch aussah, und seine Lippen hatten nicht viel Farbe.
»Ja, mein Junge. Ich weiß, es tut weh, aber das geht vorüber. Du mußt jetzt tapfer sein, verstehst du? Brav in die Schule gehen und mich vergessen. Leb wohl.«
»Leb wohl«, sagte Jakob leise. »Und ich wünsche dir viel Glück. Leb wohl, Natascha. Ich hab dich sehr lieb gehabt.« Er ging zur Tür, ohne Natascha die Hand zu reichen, er schlich aus der Wohnung, gelangte auf die Straße. Seine Augen waren trocken. Ihn plagten immer noch die Verse Verlaines:
Traurig, traurig war mein Herz…
Er überschritt die Straße, erinnerte sich plötzlich an sein Rad, kam zurück es holen, saß auf und fuhr los.
Lange fuhr er, und auch später erinnerte er sich nicht mehr, welche Straßen er durchfahren hatte. Sein Kopf war leer, er hätte gerne geweint, aber seine Augen blieben trocken. Manchmal tauchten quälende Bilder vor ihm auf. Er sah eine Waldlichtung, die braune Schulter einer Frau. Er hörte Nataschas Stimme doppelt, sie dröhnte so merkwürdig, tief innen in ihrer Brust, und mit dem andern Ohr vernahm er sie, sehr weit, als würde sie als Echo vom Himmel zurückgeworfen.
Als Jakob endlich erschöpft vom Rad stieg, war er erstaunt, daß er vor der ›Villa des Mimosas‹ stand. Er ging die Auffahrt entlang, ums Haus herum, wollte sein Rad im Keller versorgen. Er blickte zu dem würfelförmigen,
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