Der Teufel von New York
am folgenden Tag mit ihren vielen alten und zukünftigen Freunden allein gelassen hatte, ging ich zurück nach Hause. Bird war nicht mehr da, und das traf mich hart. Aber als ich Mrs. Boehm auf der Treppe begegnete, lächelte sie mich mit ihren breiten Lippen an. Ich lächelte zurück, und das war immerhin etwas.
Ich besaß immer noch keine nennenswerten Möbel. Bisher hatte ich auch keine gebraucht, aber vielleicht würde ich jetzt mal darüber nachdenken. Matsell hatte meinen Lohn still und heimlich auf vierzehn Dollar die Woche erhöht. Ich hob die Zeitschrift auf, die schon einige Zeit gleich neben der Tür auf dem Boden gelegen und darauf gewartet hatte, dass ich bereit war, sie zu lesen, setzte mich unter mein Fenster und begann mit der letzten Episode von Licht und Schatten in den Straßen von New York .
Die Küchenmagd, die von dem Adligen geschwängert worden war, starb im Kindbett. Aber das Baby wurde dem Grafen übergeben, der, als er das Mädchen in die Arme nahm, aus Reue über seine Gefühlskälte bittere Tränen vergoss. Die Geschichte war voll üppiger Bilder, und trotz der klischeehaften Handlung war sie doch recht erkenntnisreich. Wie in der ganzen restlichen Serie ging es um leidenschaftliche Menschen, die Tragödien heraufbeschworen, weil sie nicht wussten, wie sie es anders machen sollten.
Ich streckte mich auf meiner Strohmatratze aus, und gegen Mittag schlief ich ein. So tief wie noch nie.
Ich träumte, dass Mercy nach London ging, einen reichen Grafen kennenlernte und ihn heiratete. Aber schon bald änderte sich mein Traum. Sie hatte viel freie Zeit und so viel Papier, wie sie brauchte.
Und plötzlich las ich ihr Buch.
Ich haste mit irrwitziger Geschwindigkeit durch die Kapitel. Die Schrift ist jetzt verschlungen und erinnert mehr an Mercys Art zu sprechen als an ihre Geschichten. Viele Anspielungen auf große Liebe und große Verluste, aber nie eine richtige Geschichte. Am Ende ist sie zum Denkmal einer Dulderin geworden und beobachtet die Menschen von New York, die wie die brechenden Wellen des Atlantiks um ihren Sockel tosen.
Ich suche nach mir selbst in ihren Worten. In den Zwischenräumen zwischen dem Endpunkt und dem nächsten Großbuchstaben.
Natürlich mache ich das. Das ist mein Traum.
So suche ich nach einem gut gebauten Mann von kleiner Statur. Mit einem bitteren und gedankenvollen Zug um den Mund und blondem Haar mit tiefem, spitzem Haaransatz. Ich vertiefe mich in ihre Wohltätigkeitsveranstaltungen – die Tische sind voller Austernschalen, der Geruch gerösteter Rote Bete hängt in der dicken Luft, vor dem Fenster fiedelt ein schwarzer Geiger. Ich suche nach einem Paar grüner Augen, die zu viel gesehen haben und die sie lieben.
Aber sie versteckt mich natürlich. Sie sperrt mich in Metaphern ein, zerstückelt mich und verteilt mich über mehrere Nebenfiguren. Barkeeper und Dienstboten. Ich folge der Tintenspur, die sie hinterlassen hat, aber zugleich erinnere ich mich daran, wie sie mich immer angesehen hat, wie ihre Wimpern in einem flüchtigen Blick immer noch etwas anderes im Augenwinkel erhaschen wollten.
Ich konnte nie ergründen, was sie von mir wollte. Nicht einmal im Traum. Ich weiß nur, was sie aus mir gemacht hat.
Schweißgebadet wachte ich auf und öffnete das Fenster.
Die Luft war kühl, denn der Herbst kam nun mit Riesenschritten näher. Doch noch immer bedeckte Staub die Felder und Kirchen von Manhattan mit sonnigem Glanz. Zu hell, um direkt hineinzusehen. Ich schloss die Augen.
Als ich merkte, dass ich die Worte wieder vergaß, die sie in meinem Traum geschrieben hatte, kämpfte ich darum, sie im Gedächtnis zu behalten. Denn ich liebte sie über jede Vernunft.
Er gab mir alle möglichen Namen. So dass es mir, als er meinen
richtigen Namen eines Tages laut aussprach, so vorkam, als sei
das der einzige wahre Ausdruck meiner selbst, als hätten alle
Männer zuvor ihn falsch ausgesprochen oder missverstanden.
Es war eine sinnlose Übung. Verrückt. Sie sprach doch niemals von mir.
Historisches Nachwort
Zur Geschichte der Five Points von New York, des Armenviertels im Süden von Manhattan, gibt es viele Legenden, Spekulationen und Kontroversen, doch ich habe mein Bestes getan, ein möglichst realitätsnahes Bild der damaligen Verhältnisse zu zeichnen. 1849 brachte der Herald eine reißerische Geschichte über einen Säugling, der »im Spülstein des Wohnhauses in der Doyer Street Nr. 6 gefunden wurde. Es war offenkundig, dass hier eine böse
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