Der Teufel von New York
Tat begangen worden war, denn um den Hals des unschuldigen Kindes war eine Schnur gelegt und fest zugezogen worden, so dass es stranguliert wurde«. Trotz der schlimmen Armut im Sechsten Bezirk war Mord dort beileibe nicht üblich, und die Bewohner, die die Leiche gefunden hatten, riefen schockiert sofort die Polizei. Als die Polizisten ankamen, wurden sie von Nachbarn in das Zimmer der Mutter geführt. Eliza Rafferty »saß ganz ruhig auf einem Stuhl in ihrem Zimmer und nähte ein Kleid, denn das war ihr Beruf«. Der Coroner stellte fest, dass der Säugling ermordet worden war, obwohl Eliza Rafferty darauf bestand, das Baby sei schon tot gewesen, als sie es ins Spülbecken gelegt hatte. Welche besonderen Umstände sie zu diesem Kindsmord getrieben hatten, blieb unbekannt, doch viele Bewohner der Five Points lebten von der Hand in den Mund, in so ausweglosen und elenden Umständen, dass der tägliche Überlebenskampf große Willenskraft erforderte.
Mit der Bildung einer Polizei hinkte New York anderen Städten, wie etwa Paris, London, Philadelphia, Boston, ja sogar Richmond, Virginia, weit hinterher. Für diese Verzögerung gibt es viele Gründe, nicht zuletzt die Tatsache, dass New Yorker es noch nie besonders geschätzt haben, wenn man ihnen Regeln auferlegt, und der revolutionäre Geist von Autonomie und Unabhängigkeitwar in der Zeit vor dem Sezessionskrieg stark ausgeprägt. Letztlich ist er das noch heute. Doch 1845, als die Verbrechensrate stieg und es immer mehr Unruhen in der Stadt gab, wurde der Beschluss gefasst, dass man die Straßen nicht länger sich selbst überlassen konnte, und so wurde trotz lauten Widerstands und politischer Kontroversen das New York City Police Department, das berühmte NYPD, ins Leben gerufen. Im selben Jahr breitete sich die Phytophthora infestans genannte Plage der Kartoffelfäule weitflächig in Irland aus, und die große Hungersnot begann, die zum Tod oder zur Umsiedlung von Millionen Iren führte und eine soziale Umwälzung in Gang brachte, von der New York City heute noch geprägt ist.
Die New Yorker haben immer schon viel fürs Theater übriggehabt, besonders eifrige Theaterliebhaber aber waren die Zeitungsausrufer und Schuhputzer aus den Five Points. Das von den Zeitungsjungen gegründete Theater lag in Wirklichkeit in der Baxter Street, sie waren darin für alles selbst verantwortlich, von den Requisiten bis hin zur musikalischen Untermalung, und sie führten Stücke auf wie etwa The Thrilling Spectacle of the March of the Mulligan Guards. Es gab fünfzig Zuschauerplätze in dem Haus, und einmal hatten sie sogar den russischen Großfürsten Alexis zu Gast, als dieser sich auf einer Besichtigungstour durch das berüchtigte Armenviertel befand, woraufhin die Jungen ihre Theaterkompanie in The Grand Duke’s Opera House umbenannten.
Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, als New York City bereits als das unangefochtene Zentrum der amerikanischen Verlagswelt galt, entstand ein neues Genre in der Stadt: die Großstadt-Sensationsliteratur, basierend auf wahren Begebenheiten, erzählt in wechselweise erschütternden und erbaulichen Darstellungen des Lebens in den schmutzigen Straßen der jüngsten Mega-Metropole der westlichen Welt. Anders als die schon lange bestehenden Großstädte wie London oder Paris hatte New York laut Volkszählung im Jahre 1800 lediglich 60 515 Einwohner, eine Bevölkerungszahl, die bis zum Jahr 1850 explosionsartig auf eine halbe Million anstieg. In der Folge hatte die Stadt heftig zu kämpfen,was die wachsende Bevölkerung, die Armut, Infrastruktur, Kultur und soziale Strukturen anging, und in der Sensationsliteratur wurden die schockierenden Vorkommnisse, die aus diesen Umwälzungen resultierten, aufgegriffen. Oft waren die Titel der Werke Variationen zum Thema Gaslicht und Schatten, Dunkel und Sonnenschein. Autoren wie der Stadtreporter George G. Foster fesselten und faszinierten Leser aus etwas idyllischeren Landstrichen, während sie zugleich ein Schlaglicht auf das Elend der notleidenden Bevölkerung von Manhattan warfen. Mercys Texte basieren auf seinen Werken.
Im Jahre 1859 veröffentlichte George Washington Matsell sein Lexikon der Gaunersprache »Flash«, The Secret Language of Crime: Vocabulum, or, the Rogue’s Lexicon . Die Notwendigkeit, ein solches Buch zu schreiben, hatte sogar Matsell selbst überrascht, der in seinem Vorwort trocken bemerkte: »Autor eines Wörterbuchs zu werden zählte ganz gewiss nie zu meinen Vorhaben, nicht
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